Ortskundig

Wie im vorletzten Eintrag gibt es auch diesmal die Aussicht auf eine mögliche Origins-Geschichte.Towne und David Fincher arbeiteten seit 2019 an einer Miniserie für Netflix, die sich mit Jake Gittes' Zeit als Cop in Chinatown und insbesondere seinem Verhältnis zu seinem Kollegen/Gegenspieler Lou Escobar beschäftigt. In einem Interview, das einen Monat vor seinem Tod in „Variety“ erschien, bekräftigte der Autor, dass die Bücher für sämtliche Folgen fertig seien. Ob es jemals grünes Licht für das Prequel geben wird, steht in den Sternen. Eine offizielle Verlautbarung des Streamers gab es dazu weder vor fünf Jahren noch jetzt. Ob Jack Nicholson noch immer ein Mitspracherecht in allen Angelegenheiten hat, die „Chinatown“ betreffen, wird im Artikel nicht erwähnt.

Falls auch aus diesen Plänen nichts werden sollte, gibt es wiederum einen gar nicht so schwachen Trost. Fincher und Towne haben nämlich einen Audiokommentar zu einer neuen Blu-ray von „Chinatown“ aufgenommen, die im Mai in den USA erschien. Ich hoffe, sie kommt auch hier zu Lande heraus, denn bei diesem Format stellt der Regionalcode meist ein schwer überwindbares Hindernis dar. Allerdings hat ein Unverdrossener den isolierten Kommentar ins Netz gestellt (https://nofilmschool.com/fincher-and-towne-chinatown-commentary). Den kann man parallel zum Film hören, allerdings ist er wegen der unterschiedlichen Laufgeschwindigkeit (24 Bilder pro Sekunde versus 25 Bildern auf DVD) nur auf Blu-ray synchron. Mein Versuch scheiterte freilich schon daran, dass ich den Kommentar ständig unterbrechen musste, um mir Notizen zu machen. Er ist eine wahre Schatztruhe - selbst für Leute, die glauben, nach der Lektüre von Sam Wassons Enthüllungsbuch „The Big Goodbye. Chinatown and the last years of Hollywood“ bereits alles über den Film zu wissen.

Auf Wassons Verdacht, ein alter Collegefreund habe Teile des Drehbuchs als Ghostwriter für Towne geschrieben, geht das Gespann im Kommentar nicht ein. Über ihr geplantes Prequel sprechen sie, sei es aus Aberglauben oder juristischer Vorsicht, ebenfalls nicht. Auch den Einfluss, den John Fantes Prosa auf sein Bild des Los Angeles der 1930er Jahre hatte, erwähnt Towne nicht. (Kurios, denn er hat oft auf ihn Bezug genommen, war mitverantwortlich für Fantes Wiederentdeckung und drehte 2004 eine Verfilmung von „Ask the Dust“). Aber ansonsten lassen Fincher und Towne nichts aus. Sie packen so viele Informationen, Erinnerungen und Beobachtungen wie nur eben möglich in die Laufzeit von 131 Minuten hinein.

Nicht nur die Filmbilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf, ich glaubte auch, das historische Los Angeles der 1930er („in transition from an agararian town, people still had chickens in their back yard“) vor mir zu sehen. Ich nahm mir einen Stadtplan zur Hand, denn Towne hat die meisten Drehorte des Films selbst ausgesucht. Er erzählt die Stsadtgeschichte anhand der Locations. Fincher kennt sie alle, er scheint Pilgerreisen dorthin unternommen zu haben, einen Hamburgerladen gibt es immer noch, die Mar Vista Apartments sind inzwischen eine Schule, die seine Tochter besucht und unter dem Parkplatz des Biltmore Hotels hat er einige Szenen von „Fight Club“ gedreht. Der Albacore Club geht auf ein reales Vorbild zurück (Towne: The old Tuna Club ran Los Angeles“). Der Autor berichtet von seinen Recherchen, viele Ideen gehen auf Dinge zurück, die ihm ein alter Cop erzählt hat (die zerbrochene Uhr unter dem Autoreifen, das demolierte Rücklicht, um Evelyn Mulwrays Wagen besser folgen zu können). Viele Figurennamen hat er in Geschichtsbüchern (Fincher: „I love the name Ida Sessions, sounds like a dubbing artist“) gefunden. Fincher hört ihm begeistert zu, ihn fasziniert, was für eine kohärente Welt der Szenenbildner Richard Sylbert (Symmetrie herrscht nur, bevor es markerschütternde Entdeckungen gibt), die unlängst verstorbene Kostümbildnerin Anthea Sylbert und der Kameramann John A. Alonzo geschaffen haben. Towne identifiziert die Szenen, die der ursprüngliche Kameramann Stanley Cortez (ein Veteran und veritabler Zeitgenosse) noch gedreht hat. Man erfährt viel darüber, wie aus der Verwendung von Requisiten Atmosphäre entsteht.

Fincher interpretiert die Handlung und die Charaktere hellsichtig; beide werden nie müde, von den Darstellern zu schwärmen. Mitunter ist er Towne einen Schritt voraus, er reißt allmählich die Deutungshoheit an sich. Wie Fincher die Arbeit seines Kollegen Roman Polanski analysiert, ist eine veritable Master Class in Regie: etwa das erste Gespräch zwischen Gittes und Noah Cross, fünf, sechs Seiten Drehbuch in einer einzigen Einstellung. Bemerkenswert ist auch Finchers Auffassung von subjektiver Perspektive: die Schauenden sind im Bild, man sieht ihre Reaktion. Er ist kein demütiger Bewunderer, einige Einstellungen hätte er selbst nachgedreht wegen der Lichtsetzung, die ihn nicht zufriedenstellt.

Daraus entwickelt sich ertragreiche Spannung. Ein Autor spricht darüber, wie er Regie begreift, und ein Regisseur darüber, wie er das Drehbuchschreiben versteht. Towne erinnert sich an die Zweifel, die er ständig hatte. Er wusste nie, wohin der letzte Monolog von Noah Cross führen sollte, bis ihm das Schlüsselwort „future“ einfiel. Die zwei Kommentatoren sind ganz nah dran am Film. Ein zentraler Punkt ist für Fincher die Musik von Jerry Goldsmith. Ich wünschte, mein Freund Heiko hätte dieses Gespräch noch hören können, denn Goldsmith war sein Lieblingskomponist. Bei „Chinatown“ musste er im letzten Moment einspringen, ihm blieben nur zehn Tage, den Score zu komponieren. Laut Produzent Robert Evans rettete er den Film, den sie alle anfangs für eine Katastrophe hielten. Die Besetzung ist klein, aber umfasst immerhin vier Harfen und eine Guiro, die mittelamerikanisches Flair einbringt. In der Badezimmerszene kommt Goldsmith' Einsatz ein paar Sekunden zu früh, findet Fincher. Immer wieder staunen sie, wie wirkungsvoll und überraschend die Trompete eingesetzt ist; nicht durchdringend, sondern voller Melancholie. Ich habe ihren Sound im Ohr; genau die richtige Stimmung, um den heutigen Eintrag ausklingen zu lassen und „Chinatown“ ganz schnell wiederzusehen.

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