Machtlose Worte

Heute früh las ich, dass Robert Eggers' »Nosferatu« ein Startergebnis erzielte, das die kühnsten Erwartungen übertraf. Über die Feiertage hat er 40, 8 Millionen US-Dollar eingespielt, etwa doppelt so viel, wie die Produktionsfirma Focus Features sich erhofft hatte. Das ist eines der besten Ergebnisse in der Firmengeschichte und stellt in diesem Jahr auch den Rekord für unabhängige Studios insgesamt auf.

Solche Zahlen rufen nicht nur Analysten auf den Plan, ein derartiges Phänomen will auch umgehend gedeutet sein. Tatsächlich fasziniert mich »Nosferatu«, der in wenigen Tagen bei uns anläuft, nicht zuletzt als eine Wette: Warum vertraut ein Studio einem Außenseiter, dessen eigensinnige Filme nie ernsthaft Geld eingebracht haben, ein Budget von 50 Millionen für das Remake eines Stummfilmklassikers an, den in den USA kein Mensch kennt? Und lässt ihn dann auch noch auf Zelluloid drehen? Alles in allem also ein erfreulicher Betriebsunfall im System, wie mir schien. Die Leute von "Slash", schlaue Propheten nach dem Ergeignis,wissen es besser. Dort entdeckte ich heute die Überschrift „"5 Reasons why 'Nosferatu' killed it at the Box office". Zu diesen Gründen zählten unter anderem das erschreckend gute Marketing, der Kontrast zum sonstigen Weihnachtsprogramm, der Mangel an starken Horrorfilmen in jüngster Zeit (herrschte der wirklich?) sowie der Umstand, dass Eggers endlich einen echten Mainstream-Film gedreht hat. Der letzte Grund überzeugt mich nicht vollends, denn dort würde ich »Nosferatu« nun eher nicht verorten. Zugleich stellt sich mir allerdings auch die Frage, ob ich das Ausmaß des Kults um den Regisseur unterschätzt habe. Welchen Grund für diese Erfolgsgeschichte der"Slash"- Autor Ryan Scott allerdings an die erste Stelle setzte, überraschte mich: die hervorragenden Kritiken, die „»Nosferatu« reihum erhielt. So etwas liest man natürlich gern in Zeiten, die unseren Berufszweig mitnichten zur Selbstüberschätzung ermutigen. Zählt unser Wort also noch (oder wieder) etwas?

Die Frage ist unmöglich zu beantworten, denn wie will man das quantifizieren? Und eigentlich empfinde ich die vermutliche Machtlosigkeit unseres Metiers sowieso als eine Entlastung. Statt einer Antwort liefere ich Ihnen deshalb lieber eine kleine persönliche Erhebung. Das Terrain dieser bescheidenen Feldforschung ist weniger die Leserschaft, vielmehr handelt es sich um eine sozusagen berufsbedingte Mundpropaganda. Noch immer, wenngleich nicht mehr so oft wie früher, werde ich von Freunden, Bekannten oder Unbekannten gefragt, welche Filme ich ihnen denn aktuell empfehlen könne. 2024 standen hier drei Titel an vorderster Stelle. »Morgen ist auch noch ein Tag« von Paola Cortellesi traf die meisten Leute aus heiterem Himmel. Ich hatte angenommen, er stelle von vornherein ein breitenwirksameres gesellschaftliches – im Gegensatz zu einem cinéphilen - Phänomen dar. Aber zumal auf dem Land lief er anfangs durchaus unter dem Radar und mein Rat wurde mit einigem Erstaunen registriert. Verblüfft waren etliche Fragende ebenfalls, dass ich ihnen „Konklave“ als einen  patenten Thriller ans Herz legte. Der Neustart, auf den ich in diesem Jahr am häufigsten angesprochen wurde, war ohne Zweifel »The Room Next Door«. Er brachte mich auch in die größte Verlegenheit.

Das war im Oktober/ November der Film, über den man mitreden können musste. Er verhandelt ein brisantes Thema, ist mit hochverehrten Darstellerinnen besetzt, der Regisseur bürgt noch immer für ein gewisses Aufsehen und der Goldene Löwe in Venedig komplettierte den Ereignischarakter. Man kam nicht an ihm vorbei, was mir allerdings sehr recht gewesen wäre, denn ich rate niemandem gern davon ab, ins Kino zu gehen. Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Almodóvar so tief enttäuschen könnte. Seine Buchstäblichkeit erschütterte mich. Die Dialoge sind von geradezu tyrannischer Deutlichkeit, sie legen alles offen, kein Subtext ist ihnen eingezogen. Ein Ereignis oder ein Mensch wird erwähnt, und prompt folgt eine treuherzige Rückblende. Die Zitate und Verweise könnten nicht näher liegen. Natürlich wird Martha Gellhorn sofort erwähnt, die mit der Tilda-Swinton-Figur Vornamen und Beruf gemeinsam hat, und da Julianne Moores Rollenname Ingrid ist, wollen die Zwei selbstverständlich in »Reise in Italien« mit Ingrid Bergman gehen. Im DVD-Player liegen stets die bezeichnenden Filme, um den Bezug zu John Hustons »Die Toten« herzustellen, braucht man keinen Nobelpreis.

Dem großen Geheimnis kommt man nicht näher, indem man einen geheimnislosen Film dreht. Der Film macht befangen, so oder so. Offenbar bereitete er auch Thomas Abeltshauser beträchtliche Probleme, der ihn für epd Film besprach. Man spürt, er wollte ihn mögen, fand auch gute Gründe dafür. An einem Punkt muss ich ihm widersprechen: wenn er schreibt, dass Almodóvar sich für seinen ersten englischsprachigen Langfilm aus seiner Komfortzone begeben hat. Das genaue Gegenteil ist der Fall (sofern man beim Thema Sterbehilfe überhaupt davon sprechen mag): Er richtet sich in einem ästhetischen System der völligen Lesbarkeit ein, in dem nichts irritiert. Von der aparten, klinisch sauberen, gnadenlos farbkoordinierten Szenerie mal ganz zu schweigen, die das Publikum in wohlige Schauer des Neides versetzt. Ich fühlte mich in die Melodramen von Sirk und Minnelli zurückversetzt, wo ich stets den Argwohn hege, dass nicht die Tragik scheiternder Gefühle die eigentliche Botschaft ist, sondern die verschwenderische Einrichtung der Wohnzimmer und die prunkende Funktionalität der Küchen.

Als ich all dies gegenüber einer besonders hartnäckigen Freundin ausbreitete, erzielte ich den genau gegenteiligen Effekt. Sie wollte »The Room Next Door« jetzt unbedingt sehen, und es stellte sich heraus, dass gerade die Buchstäblichkeit ihr besonders entgegenkam. Da haben Sie nun also doch eine Antwort: Man hört nicht auf uns, man muss es auch nicht. Aber nichts muss beim Alten bleiben. Ich wundere mich nur, mit welchem Eifer ich dieses Jahrauf einem Verriss ausklingen lasse....

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