Eine Spezialoperation
Wenn man 2019 in landläufige Suchmaschinen die Begriffe "Ukraine" und "Hungersnot" eingab, erschien als weiteres Schlagwort augenblicklich "Kannibalismus". Die Gräuel des Holodomor, der Tötung durch Hunger, müssen unvorstellbar gewesen sein. Bis heute streiten Historiker darüber, wie viele Millionen Menschen ihm auf Stalins Geheiß seit den späten 1920er Jahren in der Ukraine und anderen Sowjetrepubliken zum Opfer fielen. Wie bloß kann sich das Kino von dieser Agonie ein Bild machen?
Als ich »Mr. Jones« von Agnieszka Holland 2019 im Wettbewerb der Berlinale sah, war das für mich eine veritable Geschichtslektion. Morgen (Mittwoch) Abend zeigt ihn arte, allerdings mit dem Titel „Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins“, unter dem er bei uns auf Heimmedien erschien. Damals war mir der Begriff "Holodomor" nur vage bekannt, vom Ausmaß der Katastrophe hatte ich überhaupt keine Ahnung. Los ließ sie mich nicht. Später lernte ich dann jene ukrainische Redensart kennen, die besagt: Wenn man hier den Boden aufgräbt, stößt man auf die Gefallenen des Weltkriegs, und wenn man tiefer gräbt, auf die Verhungerten.
Mit ihrem Film leistet Holland also folgenreiche Aufklärungsarbeit. Der Preis der Konventionalität – der Dramaturgie, Erzählperspektive und Inszenierung – scheint mir dafür vergleichsweise gering. (Selbst dem sonst unerbittlichen Michel Ciment erging es ja so, siehe "Glühende Neugier" vom 14. 11. letzten Jahres.) Dazu gehören die zahlreichen Brücken, die die Regisseurin einem westlichen Publikum baut, namentlich der Blickwinkel des britischen Journalisten Gareth Jones, der die Agonie der Ukrainer im Frühjahr 1933 am eigenen Leib erlebte. Mit dieser Perspektive ist die Erzählung historisch verbürgt und legitimiert zu können. Für Jones (James Norton), der sich geschickt aus dem Gewahrsam seiner sowjetischen Aufseher befreit hat, wird die Reise in die Ukraine zu einem Abstieg in die Hölle. Schon im Zug musste er zusehen, wie sich Reisende um eine weggeworfene Orangenschale streiten. Um jeden Krumen Brot wird erbittert gekämpft.
In einem Bauernhaus, wo er Zuflucht vor der eisigen Kälte sucht, teilen verlorene Kinder ein Stück Fleisch mit ihm. Als er aus der Tür tritt, entdeckt er, dass sie ihm einen Fetzen aus dem Oberschenkel ihres verhungerten Bruders angeboten haben. Holland erzählt vom Grauen nicht episch, sondern intim. Sie will ein menschliches Maß wahren. Natürlich ist auch das unerträglich. Wenn Jones Leichen am Straßenrand oder ihren Abtransport auf Panjewagen fotografieren will, versagt ihm der Finger am Abzug.
Der Gegensatz zu dem Leben, das der Reporter einige Tage zuvor noch in Moskau kennenlernte, könnte brüsker nicht sein. Holland inszeniert es, nicht unvergnügt, als eine Vorhölle der Dekadenz. Stalins Außenminister Litwinow, dem Jones ein dezent nachgebessertes Empfehlungsschreiben des britischen Premierministers Lloyd George vorlegt, entpuppt sich als eitler Feinschmecker. Walter Duranty (Peter Sarsgard), der Moskau-Korrespondent der "New York Times", verfügt über beste Beziehungen zu Stalin, den Jones interviewen will; kurz vorher war ihm ein ähnlicher Coup mit Hitler und Goebbels gelungen. Der zieht es jedoch vor, daheim Orgien zu feiern, auf denen er erlesen unpuritanischen Neigungen nachgehen kann. Stalin selbst taucht nicht auf, was kein Schaden ist, denn die Schurkenrolle füllt Duranty prächtig genug aus. Der Pulitzer-Preisträger hat sich längst zum Komplizen des Regimes machen lassen und setzt alles daran, Jones' Recherchen zu behindern und seine Enthüllungen zu diskreditieren.
Holland, einst von Artur Brauner und Hollywood wegen ihrer gediegen-erschütternden Holocaust-Dramen umworben, vertraut allerdings nicht über Gebühr darauf, dass sich diese Chronik als konventioneller Journalistenfilm erzählen lässt. Jones ist zwar ein findiger, unanfechtbarer, auch verschüchtert charmanter Gewährsmann der Wahrheitssuche. Obwohl sie auf Dringlichkeit zielt, zögert sie mitunter, die unvorstellbaren Verheerungen zu Bilder zu fassen. Genügt es, dass sie Jones' Widersacher dämonisiert ? Zu den Bizarrerien ihrer Geschichtsschreibung gehört, dass am Ende ausgerechnet William Randolph Hearst als Deus ex machina auftritt, jener übermächtige Pressemagnat, der gleichermaßen Hitler, Mussolini und Roosevelt bewunderte. Es kann durchaus so gewesen sein.
Kein Zweifel, ihr Erzählmodell aufwühlender historischer Rekonstruktion stößt an seine Grenzen. Sie aber merkt das, Die barocken Spiegelfechtereien, die ihre Inszenierung zuweilen veranstaltet, sind beachtlich. Für zusätzliche, durchaus reizvolle Verwirrung sorgen die dramaturgischen Bewegungen, die Andrea Chalupas Drehbuch vollzieht. Gleich zu Beginn führt es auf eine kurios falsche Spur, in dem es einen anderen Autoren als den Titelhelden an der Schreibmaschine zeigt. Bald darf man ihn als George Orwell identifizieren, der sich beim Schreiben von „Farm der Tiere“ Rechenschaft ablegt über die Bestialität der menschlichen Natur. Dieser Auftakt ist ein wenig fahrlässig, aber bravourös: Immerhin führt die Kamera, die von einem Schweinestall über ein wogendes Weizenfeld in Orwells Schreibzimmer schwebt, die Themen Hunger, Überfluss und Zeugenschaft ebenso drastisch wie lyrisch zusammen. Der Film legt nahe, dass der Schriftsteller von Jones' Reportagen zu seiner Parabel inspiriert wurde. Das ist weder historisch gesichert noch braucht seine Leistung solche Aufwertung. Aber der Sprung zu einer Gegenwart, die sich unbequeme Nachrichten von Hals hält, in dem sie sie als falsch deklariert, ist ohnehin offensichtlich genug.
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