Eine Entzauberung
Den Eintrag, den ich heute schreiben will, werde ich nicht auf die Reihe bekommen. Ich hatte ihn mir bereits vor Tagen vorgenommen, recht eigentlich vor Wochen. Vieles hatte ich mir in Gedanken zurechtgelegt, eine vage Struktur existierte immerhin. Aber eine Haltung zu finden, ist nicht so einfach.
Es ist wiederum ein Kapitel in der Skandalchronik des französischen Kinos, das mich ratlos macht. Es schien anfangs unverfänglicher, jedenfalls nicht ganz so abgründig wie die Causa Depardieu. Fast hätte ich geschrieben: ich fand es ein wenig erhabener. Daran erkennen Sie wohl, dass ich mit einer enormen Befangenheit ringe. Inzwischen hat sich dieser frühe Anschein brüsk gewandelt, es stehen handfeste, gravierende Vorwürfe im Raum. Die unselig vertrauten Muster greifen nun auch hier. Dabei hatte ich auf Zwischentöne gehofft, auf einen gewissen Spielraum jenseits der Mechanismen. Das war zu romantisch gedacht.
Im Zentrum der Anschuldigungen steht ein Filmemacher, den ich ungemein schätze: Benoit Jacquot, der Regisserur von »Das Einsame Mädchen«, »Der siebte Himmel«, »Schule des Begehrens«, »Sade« und »Leb' wohl, meine Königin«. Bereits im Dezember letzten Jahres hatte die Schauspielerin Judith Godrèche ausführlicher als je zuvor über ihre Beziehung zu ihm gesprochen, die in den späten 1980er Jahren begann. In Interviews beschrieb sie sich als blutjunges Mädchen, das "unter Einfluss" stand. Er war fast 40, sie noch minderjährig, gerade einmal 14. Er behauptete immer: 15 – was eine auch juristisch maßgebliche Nuance sein könnte. Ihr Verhältnis dauerte sechs Jahre, in denen sie gemeinsam an drei Filmen arbeiteten. Er war ihr Pygmalion, der "Ersatzvater, mit dem ich schlief" (Godrèche). Was haben ihre leiblichen Eltern bloß dazu gesagt? Wie konnten sie das zulassen?
Diese Beziehung war mehr als nur ein offenes Geheimnis in der Branche. In den Medien war sie seinerzeit sehr präsent, wenngleich sie in einem anderen, nachgerade romantischerem Licht betrachtet wurde als heute. Weder die Schauspielerin noch der Regisseur machten einen Hehl aus ihr: un couple au cinéma et en ville. Sie gab im Fernsehen bereitwillig Auskunft darüber, sprach im Nachhinein davon, wie "inspirierend" diese Einflussnahme war. 1995, drei Jahre nach ihrer Trennung, veröffentlichte Godrèche ihren Roman "Point de coté", der erste Zweifel an der bisherigen Lesart hätte schüren können. Anfang Dezember gab sie nun mehrere Interviews im Vorfeld der Ausstrahlung ihrer hemmungslos selbstironischen und entschieden autofiktionalen Serie »Icon of French Cinema« statt, in der Godrèche die Hauptrolle spielt und die sie geschrieben sowie inszeniert hat. (Sie lief zum Jahresende im Spätprogramm von arte und ist noch eine Weile in der Mediathek abrufbar.) Zu diesem Zeitpunkt sprach sie offener und eindringlicher als bisher über ihre traumatischen Erlebnisse - beispielsweise darüber, wie sie sich als minderjährige Begleiterin eines renommierten Regisseurs fühlte, die bei Festivals mittrinken musste, obwohl sie Alkohol in ihrem Alter noch nicht vertrug. Bemerkenswerterweise nennt sie weder in den Artikeln noch in der Serie je Jacquots Namen. Dieses Zögern wunderte mich, war auch anderen unerklärlich. Alle Welt wusste es doch. Das änderte sich jäh am 6. Januar, als sie ihn auf Instagram klar identifizierte.
Was hatte sich also plötzlich geändert? Einerseits schien ihr wohl bewusst geworden zu sein, dass ihre Geschichte auch ein warnendes Beispiel für eine jüngere Generation von Schauspielerinnen (darunter ihre Tochter, die in »Icon of French Cinema« mitwirkt) ist. Zum anderen hatte eine Zuschrift – kann man das heute noch so nennen in Zeiten der sozialen Medien? - sie auf ein Interview aufmerksam gemacht, das Jacquot 2011 für die Fernsehdokumentation »L'interdit« (Das Verbot oder Das Verbotene) dem Psychoanalytiker Gabriel Miller gegeben hatte. Freimütig bekennt er sich dazu, dass sein Verhältnis zu einer Minderjährigen eine "Grenzüberschreitung" war, zu "der man im Prinzip kein Recht" hat. Anfang Januar las und hörte ich das nach und stieß dabei auf seine Mutmaßung, der Altersunterschied habe Judith "erregt". Die fand ich bereits abscheulich, aber seither bin ich auf ein weiteres Zitat aus der Sendung gestoßen: "Elle a braqué mon désir." Wie nur soll man das überhaupt übersetzen? Als "Sie hat mir mein Begehren geraubt"?
Die Affäre wird immer unfasslicher für mich. Die Befangenheit löst sich nicht. Jaquots Faible für junge, nymphenhafte Protagonistinnen war mir stets ein wenig mulmig – eher in der Häufung als in der Darstellung. Sie sind ja mutige Entdeckerinnen, entwickeln unbändige Lebensneugier und überschreiten selbstbewusst die gesellschaftlichen Grenzen. Ich nahm mir vor, den wichtigsten gemeinsamen Film von Jacquot und Godrèche wiederzusehen, »La Desenchantée« (Die Entzauberte) von 1990, den ich damals nicht besonders mochte, der aber nun bezeichnend sein und dringende Aufschlüsse gewähren könnte. Dann wurde ich von den Ereignissen überrumpelt. Godrèche hat Anzeige erstattet gegen den Regisseur, dem sie sexuelle Gewalt gegen eine Minderjährige und Vergewaltigung vorwirft. Aus den doch etwas vagen Traumatisierungen sind nun ein womöglich juristischer Tatbestand geworden. Eine Klage dürfte aussichtslos sein – die Verjährungsfrist ist sehr wahrscheinlich abgelaufen -, aber nicht unbedingt vergeblich. Ihre Beziehung ist unwiderruflich in der #MeToo-Ära angelangt. Jaquot streitet die Vorwürfe entschieden ab. "Le Monde" hat in den letzten Tagen umfangreiche Recherchen veröffentlicht, deren Wahrheitsgehalt ich momentan schwer einschätzen kann; flankiert von einem offenen Brief von Godrèche an ihre Tochter, dessen Pathos ich schwer ertragen kann, dessen Aufrichtigkeit ich aber nicht in Abrede stellen will. Am nächsten Tag erschien in der Tageszeitung eine neue Recherche, die ein raubtierhaftes System in Jacquots Besetzung junger Darstellerinnen belegen soll. Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, sie zu lesen. Derweil hat Godrèche auch den Regisseur Jacques Doillon sexueller Übergriffe während der Dreharbeiten zu »La fille de 15 ans« (Eine Frau mit 15 – nun klingt auch der deutsche Verleihtitel erschreckend komplizenhaft) bezichtigt. "Libération" hat das gleich zum Anlass genommen, eine ganze Regisseursgeneration zur Rechenschaft zu ziehen und die permissiven Sitten einer Epoche auf den Prüfstand zu stellen. Ich komme mit dem Lesen gar nicht nach und frage mich, ob gerade immer tiefere Schichten des Verdrängten freigelegt werden oder ob wir uns in einer Spirale atemloser Medienaufhysterie befinden, aus der keiner unbeschadet herauskommen wird. Nur eines weiß ich: Ich muss mich dem Thema in aller Tiefe stellen – sobald ich etwas weniger fassungslos als heute bin.
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