Eine Bastion der Vernunft

Morgen feiert Eva Marie Saint ihren 100. Geburtstag. Ich hoffe, dass sie ihren Ehrentag bei guter Gesundheit verbringt. Auf Fotos aus den letzten Jahren wirkt sie erfreulich kregel. Offenkundig hat sie sich jene Eleganz und Beherrschung bewahrt, die sie auf der Leinwand auszeichnen. Ihr Lächeln wirkt noch immer distinguiert. Darf man in ihm Überlebensstolz entdecken?

Es gibt viele Gründe, der am amerikanischen Nationalfeiertag in Newark, New Jersey geborenen Schauspielerin zu gratulieren. Sie hat wackere Rekorde aufgestellt. Niemand sonst kann heute noch auf eine solch lange, glanzvolle Karriere zurückblicken wie sie. Sie hat mit den großen Stars ihrer Zeit gearbeitet (Marlon Brando, Elizabeth Taylor, Montgomery Clift, Cary Grant, Paul Newman, Warren Beatty, James Garner, Yves Montand, Gregory Peck, Tom Hanks und Bruce Willis) und einigen der besten Regisseure (Elia Kazan, Alfred Hitchcock, Otto Preminger, John Frankenheimer, Robert Mulligan und Wim Wenders). Inzwischen ist sie der älteste lebende Oscar-Gewinner (sie wurde 1954 als beste Nebendarstellerin in „Die Faust im Nacken“ ausgezeichnet. Vor allem aber hat sie – im Rahmen, die ihr die Konventionen dieser Zeiten boten – das Rollenfach der unabhängigen, Frau in Hollywood verteidigt. Sie war eine sanfte Gegenspielerin, mit deren Willensstärke stets zu rechnen war.

Saint gelang, was sonst nur Lauren Bacall, Richard Widmark und Beatty schafften: Sie war gleich mit ihrer ersten Kinorolle ganz da. Ihre Empfindsamkeit scheint in „Die Faust im Nacken“ schon vollends ausformuliert. Mir fällt kein Film ein, in dem sie nicht gut ist, inklusive des Parts der verwitweten Adoptivmutter von Clark Kent in „Superman returns“. Selbstverständlich war sie ausgezeichnet als kühle Blondine in „Der unsichtbare Dritte“. Bei Hitchcock wirkt sie überlegen und ist zugleich verletzlich. Ihre beste Leistung ist für mich jedoch ihre Darstellung der Witwe eines Kriegsberichterstatters in „Exodus“ von 1960. Sie gibt die Perspektive auf die Geburtswehen des Staates Israel vor. Sie ist eine Außenseiterin, wie so oft in ihren Filmen, eine Amerikanerin, die das erbitterte Tauziehen zwischen den Briten und den Überlebenden des Holocaust aus zunächst distanzierter Warte betrachtet. Ihre Rolle erzählt von einer politischen Bewusstwerdung auf gleich drei Ebenen, einer beruflichen (sie wird Krankenschwester) einer romantischen (in der Konfrontation mit dem Haganah-Kämpfer Newman) und einer fürsorglichen. Letztere ist vielleicht die Interessanteste. Die Witwe hat ein Kind verloren, nun nimmt sie die Waisin Jill Haworth unter ihre Fittiche und wacht eifersüchtig über deren weiteren Werdegang. Saint erzählt von ihren Hoffnungen und Enttäuschungen allein im diskreten Spiel ihrer Blicke, das zuerst offensiv ist und sich dann der Erkenntnis beugt, dass das Mädchen nicht mit ihr in die sicheren Staaten gehen, sondern in Israel bleiben wird. Als Krankenschwester versorgt sie Newmans Verletzung so professionell wie jeder Arzt.

In „Mein Bruder, der Lump“ zeigt Saint zwei Jahre später eine ganz andere Seite von sich. Sie ist extrovertiert, aufgekratzt, flirtet unbeschwert wie ein Partygirl und trifft alle Neune beim Bowling. Bis sie Beatty kennenlernt, was ein echter Coup de foudre ist, eine wortlose Übereinkunft des Begehrens. Man merkt beiden Darstellern die Kazan-Schule an; Saint verwandelt sich zurück in eine method actress. Beim Besuch im Museum ahnt sie, dass sie nicht zueinander passen, dass es nicht gut ausgehen wird. Ihre Stimme kling ungeheuer jung; als sie ihm eröffnet, dass sie schwanger ist, bleibt davon nur noch ein Flüstern.

In der wüsten Kalter-Kriegs-Farce „Die Russen kommen, die Russen kommen“ behält sie einen klaren Kopf, eine Bastion der Vernunft inmitten der ausbrechenden Hysterie. In „Grand Prix“ ist sie wiederum Außenseiterin in einer Männerwelt, eine freiheitsliebende Modejournalistin, die in den Rennfahrer-Zirkus hineingezogen wird. Erwartungsvoll und zielstrebig mustert sie Montand bei der ersten Begegnung, ist aber zusehends erschüttert, um welchen Preis die Siege auf der Piste errungen werden. Sie muss sich entschuldigen für die Offenheit, mit der sie ihre moralischen Einwände vorbringt (die Konventionen, s.o.), erspielt ihrer Verzweiflung aber bald eine selbstbestimmte Wehmut.

In dem Spätwestern „Der große Schweiger“ erkennt man sie anfangs beinahe gar nicht, weil ihr sonst blasser Teint nun einer tiefen Bräune gewichen ist. Sie und ihr Kind wurden von Indianern entführt, nun soll der Scout Gregory Peck sie zurück in die Zivilisation bringen. Daraus entwickelt Alain Sargents Drehbuch jedoch eine zarte Liebesgeschichte, die davon handelt, wie man seine eigene Stimme wiederfindet, erst stockend, dann flüsternd, dann entschieden. In „36 Stunden“ knüpft Saint an ihren Part bei Hitchcock anknüpfen, diesmal jedoch in einem ganz anderen Register. Wiederum werden aus vorgetäuschten Gefühlen allmählich echte. Im KZ hat sie den Verlust der Menschlichkeit durchlebt und wird nun von den Nazis erpresst, um James Garner zum Sprechen zu bringen (siehe „Der Tag danach“ vom 7. Juni). Ihre Haut ist hell, fast transparent: Ein so strenger Mensch wie die Krankenschwester, als die sie sich hier ausgeben muss, kann nicht lange mit einer Lüge leben. Saint gibt der Figur eine größere Ambivalenz, als das Drehbuch vorsieht. Es steht plötzlich mehr auf dem Spiel als die Anbahnung einer Liebesgeschichte - es gilt, Selbstachtung zurück zu gewinnen. Garners Figur respektiert ihre Verletzung und ihre Beherrschtheit, aber es beruhigt ihn am Schluss doch, dass ihr Vorrat an Tränen noch nicht erschöpft ist. Ihre Filme gingen oft wenig anders aus als in Hollywood üblich.

Auch ihre Karriere richtete sie anders ein als viele Stars ihrer Generation. Auch darin war sie vernünftig. Im Zweifelsfalle ging die Familie vor. Regelmäßig lehnte sie Rollen ab, wenn sie befürchtete, keine Zeit für ihren Mann (auch ihre Ehe war lang, dauerte von 1951 bis 2016, als ihr Gatte Jeffrey Hayden starb) und ihre Kinder zu haben. Es waren attraktive Angebote darunter: Hitchcock wollte sie für „Psycho“, „Marnie“ und „Der zerrissene Vorhang“, sie war auch für „Die Reifeprüfung“, „Planet der Affen“ und „Thomas Crown ist nicht zu fassen“ im Gespräch.

Beinahe wäre ich Eva Marie Saint einmal begegnet. Als ich für den WDR eine Dokumentation über den Hollywoodfotografen Bob Willoughby vorbereitete, schlug er sie als Interviewpartnerin vor. Sie waren befreundet, seit er sie 1956 auf dem Set von „Das Land des Regenbaums“ fotografiert hatte. Er schätzte sie, weil ihr der Filmruhm nie zu Kopf gestiegen war. Sie sei, meinte er, einer der wenigen normal gebliebenen Menschen, die er in Los Angeles kennengelernt habe. Auf meine Anfrage reagierte sie mit einem freundlichen Brief, in dem sie mir mit glaubhaftem Bedauern mitteilte, sie sei im geplanten Zeitraum bei Dreharbeiten in Kanada. Damals gab es schon Fax und sogar schon Email. Aber nein, sie schickte mir eine handgeschriebene Antwort. Ich glaube, auf keine Absage war ich jemals so stolz.

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