Ein ungeliebter Favorit
1982, als er in Israel und Palästina "Hanna K." drehte, gewann Costa-Gavras den Eindruck, die Besatzung sei noch wenig sichtbar gewesen - auf jeden Fall weniger als vier Jahrzehnte später. Eine unschuldigere Zeit war es nicht. Die Konflikte, von denen sein Film handelt, behinderten auch seine Produktion. Drehgenehmigungen wurde ohne Begründung am Vorabend entzogen (die Eröffnungssequenz, in der ein palästinensisches Wohnhaus von israelischen Soldaten gesprengt wird, musste in Italien gedreht werden). Einer der Hauptdarsteller, der arabisch-israelische Schauspieler Mohammad Bakri, wurde plötzlich verhaftet.
Auch dieser Eintrag steht unter dem Vorzeichen des Rip-van-Winkle-Syndroms. Er sollte schon vor einer Weile fertig werden. Nun kommt er erst recht zur Unzeit: Nach den fürwahr erstaunlichen Entwicklungen in Syrien ist Gaza gerade unter den Radius der Wahrnehmung gerutscht. So schnell kann es gehen. "Hanna K." kam ebenfalls zur Unzeit heraus. Das erste, was ich 1984 über ihn las, war eine spöttische Notiz, er habe das Ende von Jill Clayburghs Hollywoodkarriere eingeleitet: "Hanna K'd into oblivion" schrieb damals "Film Comment". Warum komme ich dennoch auf ihn zurück? Weil ich vor einigen Wochen ein Interview las, das „Cineuropa“ mit dem rüstigen Regisseur zu seinem aktuellen Film „Last Breath“ führte. Auf die Frage, auf welchen seiner Film er stolzer sei als auf jeden anderen, nannte er ihn: "Er ist immer wichtiger für mich geworden, weil er 1983 etwas aussagte, das heute noch noch gilt."
In seinen Memoiren berichtet er, dass er seine Hauptdarstellerin gewarnt hatte. Eine Menge Leute würden ihr nun den Rücken zukehren. Ihm selbst war es so ergangen, Co-Produzenten sprangen im letzten Moment ab, Verleiher wollten sich nicht festlegen etc. Tatsächlich erhielt Clayburgh zahlreiche anonyme, hasserfüllte Anrufe; gerade so wie ihre Filmfigur. Sie versicherte jedoch, sie hätte auch nicht gezögert, wenn er sie gebeten hätte, Eva Braun zu spielen.
Wir lernen ihre Figur in ziemlich komplizierten privaten Verhältnissen kennen. Die New Yorker Anwältin Hanna Kaufman, Tochter von Holocaust-Überlebenden, hat in Jerusalem ihren Abschluss gemacht und arbeitet nun als Pflichtverteidigerin. Sie erwartet ein Kind, ausgerechnet von ihrem Gegenspieler vor Gericht, dem Chefankläger Joshua Herzog (Gabriel Byrne). Sie will es allein großziehen, eine unerhörte Entscheidung in diesem Land und dieser Kultur, wie sie betont. Ihr französischer Ehemann (Jean Yanne) reist an, als sie ihn um Rat bittet. Zu einer Scheidung konnten, besser: wollten sie sich bisher nicht durchringen. Zu dieser Zeit hat Costa mehrere Filme gemacht, deren Heldinnen unselig durch ihre romantischen Irrtümer kompromittiert werden. Das Drehbuch des sonst zuverlässigen Franco Solanas macht hier keine Ausnahme; es kommt bald noch eine dritte, unentschiedene Liebesgeschichte hinzu.
Diese holprige, zeitraubende Ebene nimmt dem Film erheblich an Wucht. Costa und Solanas waren wohl einfach zu bestrickt von ihrem allegorischen Gehalt: eine Frau und eine Region, die zwischen verschiedenen Identitäten zerrissen werden. Die Handlung läuft mithin schleppend an. Sie bremst die Konflikte indes nicht allzu lange aus. Die Handlung lässt sich unspektakulär originell an. Hanna wird mit einem neuen, komplexen Fall betraut, an dessen Vielschichtigkeit der Film sich allmählich herantastet- Sie soll den Palästinenser Selim (Bakri, dem Kritiker vorwarfen, er sei "ein viel zu schöner Araber mit blauen Augen") verteidigen, der beschuldigt wird, ein Terrorist zu sein, der illegal eingereist ist. In oben genannter Eröffnungsszene taucht er kurz auf, er hatte sich in einem Brunnen versteckt. Zunächst lassen ihn die israelischen Behörden frei. Die Route seiner Wiedereinreise ist bemerkenswert: Sie führte von Beirut nach Ost-Berlin, dann von West-Berlin nach London. Die Topographie wird auch im Prozess eine wichtige Rolle spielen. Selim, der die Vorwürfe abstreitet, erhebt Anspruch auf ein Anwesen, das seiner Familie seit 1876 gehörte. Angeblich besitzt er die Kaufurkunde. Ganz zu trauen ist ihm vorerst nicht.
Selims Status ist strittig. "He is not a citizen of this country", erklärt Joshua zu Beginn des Prozesses, "he isn't a citizen of any country". Hanna erwidert sarkastisch: "Maybe he doesn't exist at all." Vor Gericht schenken die Zwei sich nichts. Er sei einfach ein Mensch, der in seine Heimat zurückkehren wolle, räsoniert sie. Und hinter ihm stehen zwei Millionen, die das Gleiche wollen, gibt ihr Gegenspieler zu bedenken. Er will um jeden Preis einen Präzedenzfall verhindern und wirft Hanna vor, sich der Argumente "unserer Feinde" zu bedienen. Solanas und Costa gehen das Problem klein und behutsam an. Hanna sucht (mit ihrem Ehemann im Schlepptau – Yanne ist immer gut als verdrossener Zyniker) den Ort, an dem das Haus stehen soll oder stand. Auf der Karte findet sie den Ort, in der aktuellen Realität aber nicht. Den israelischen Soldaten sagt dessen arabischer Name nichts, es leben auch keine Araber mehr in der Gegend. Stattdessen findet sie an der Stelle ein Kibbuz vor, dessen Name dem arabischen durchaus ähnelt. Die Zweistaaten-Lösung scheitert bereits am Zweisprachenproblem. Die stolzen Bewohner fühlen sich von der Anwältin attackiert: "Wir haben dieses Dorf aufgebaut!"
Ein Hirte – ein paar Araber leben dennoch hier – bringt Hanna auf die Fährte der alten Siedlung, die in Ruinen liegt. s wurde während der Nakba zerstört. Die israelischen Siedler pflanzten sogleich überall Bäume, damit man nichts mehr wiedererkennen kann. Aufforstung als Instrument der historischen Verdrängung - da gewinnt der Film eine Anschaulichkeit und argumentative Dichte, die für einen Moment über das Allegorische hinwegsehen lässt. Hanna steht jetzt vor einer Wahl, die über Wohl und Wehe ihrer weiteren Karriere und auch ihr Leben entscheiden wird. Nach einer flauen Abblende beginnt der letzte Akt, in dem es um Standhaftigkeit und eine Kaskade neuer Anfechtungen geht. Die Schlusseinstellung ist atemberaubend ratlos.
Sie werden erhebliche Schwierigkeiten haben, den Film zu sehen. Ich habe eine ferne Erinnerung an eine TV-Ausstrahlung zu nachtschlafener Zeit in der ARD (irgendwo geistert vielleicht noch eine VHS-Aufzeichnung herum), im Kino wurde er bei uns anscheinend nie gestartet. Als Import (aus Frankreich zumindest) sind DVD und Blu-ray noch erhältlich; keine Ahnung, ob ein Streamingdienst "Hanna K." vorhält. Eigentlich ein Fall für MUBI. Die Suchmaschine erinnerte mich daran, dass er vor nicht allzu langer Zeit im Rahmen des Arabischen Filmfestivals im Berliner Arsenal lief. Das Programmheft zitiert Edward Said, dem gefiel, dass er „uns das palästinensische Dilemma als eine erzählbare menschliche Geschichte erleben lässt". Das ist, trotz keineswegs lässlicher Drehbuchschwächen, nicht verkehrt. Mir gefällt, welche Fragen er stellt.
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