Ein prächtiges Aufbäumen

Luchino Visconti war berüchtigt für die unerbittliche Aufmerksamkeit, die er den nebensächlichsten Requisiten schenkte. Seine Teams fürchteten die Rigorosität, mit der er etwa bei Kostümen auf historischer Authentizität bestand. Die Darsteller sollten sich vollends in die Epochen hineinversetzen, in denen sie sich wiederfanden. Sie mussten sie auf ihrer Haut spüren.

Sein Kostümbildner Piero Tosi klagte, dass Visconti nie zufrieden war mit den Schleiern, die er für »Die Unschuld« an Laura Antonellis Gesicht ausprobierte. Es waren Dutzende, aber der richtige war partout nicht darunter. Erst nach stundenlangem Tauziehen gab der Regisseur sich geschlagen. Der Schleier, den Giancarlo Giannini ihr in der entscheidenden Szene anheftet, schnürt ihr Gesicht fest ein. Er sitzt wie eine Maske, die ihre Unergründlichkeit besiegelt. Man könnte sagen, dass der Neorealismus mit Visconti in das Stadium seiner Überreife eintrat. Was zum heutigen Thema passt, denn es geht um Dekadenz.

Ich wurde wieder neugierig auf den Regisseur, als ich im Sommer las, dass in Frankreich vier seiner Filme erneut als Reprisen in die Kinos kamen. Die ersten drei (»Senso«, »Der Leopard«, »Ludwig II«) waren mir weit besser in Erinnerung, also bekam ich Lust, mir nach Jahrzehnten noch einmal »Die Unschuld« von 1976 anzuschauen – nicht zuletzt aus dem Verdacht heraus, ihn immer unterschätzt zu haben. Die Blu-ray der restaurierten Fassung, die Donau Film vor fünf Jahren herausbrachte, vermittelt einen schönen Eindruck von Pasqualino de Santis' Kamerarbeit. Falls Sie am kommenden Freitag (22. 11.) in Berlin weilen sollten, empfehle ich Ihnen allerdings den Besuch des Bundesplatzkinos, wo Martin Erlenmaier den Film in seiner allmonatlichen Italienischen Reihe zeigt. Silvia Cresti führt um 18 Uhr in »L'innocente« ein.

Mit ihm nahm Visconti seinen Abschied vom Kino. Die Dreharbeiten, die er im Rollstuhl absolvierte, müssen eine einzige Tortur gewesen sein. "Schafft den Leichnam weg" soll er seinem Team regelmäßig nach dem Abdrehen der Szenen zugerufen haben – so viel Selbstironie stand ihm immerhin noch zu Gebot. Er konnte nur den Rohschnitt fertig stellen (wusste die Feinarbeit bei Ruggero Mastrioanni jedoch in guten Händen), bevor er im März 1976 starb. Sein vorausgegangener Film »Gewalt und Leidenschaft« wäre – im Hinblick auf sein Thema und Viscontis Hingabe - gewiss das triftigere Vermächtnis gewesen. Die Adaption des Romans von Gabriele d'Annunzio (auf Deutsch erschienen unter dem Titel »Das Opfer«) ist mithin so etwas wie prachtvoller Nachgedanke. Viscontis Biographin Gaia Servadio schreibt, es stecke wenig von ihm in der Geschichte, aber viel in der Form.

Natürlich haderte er mit der Gestalt d'Annunzio, dem dekadent-nihilistischen Wegbereiter des Faschismus. Ursprünglich wollte er allerdings dessen berühmtesten Roman "Il Piacere" (Die Lust) verfilmen, die Rechte waren jedoch nicht frei. Visconti ist ohne Widersprüche nicht zu haben. Die Hand, die im Vorspann durch eine vergilbte Ausgabe der Vorlage blättert, ist die des Regisseurs selbst. Recht eigentlich war »L'Innocente« ohnehin der geeignetere Stoff für ihn: als Studie der Erosion und Zerrissenheit einer Gesellschaft, die dringend von einer neuen abgelöst werden muss. Der Niedergang faszinierte ihn als Prozess, der ein Individuum ebenso wie eine Klasse erfassen kann. Den Kritikern, die ihm ab »Tod in Venedig« vorwarfen, sein Spätwerk sei nur noch ein manieristisches, wehleidiges Requiem auf sich selbst, schleuderte er den Fehdehandschuh entgegen. Ein letztes Aufbäumen zur Hochform. In den erlesenen Dekors von Mario Garbuglia und Tosis Kostümen, die eine nuancenreiche Studie in Rot sind, nistet eine Kälte des Blicks, die man Visconti davor wohl nicht zugetraut hätte. Er hält Abstand zu seinem Protagonisten Graf Tullio Hermil (Giannini), der im italienischen Original die Titelfigur ist.

Mit seiner Frau Giuliana (Antonelli) führt er eine offene Ehe, in der beide im Prinzip gleichberechtigt wären. Davon kann keine Rede sein, denn das Arrangement folgt rein männlichem Gusto. Tullio demütigt sie, indem er sie zur Mitwisserin seiner Affäre mit der Gräfin Teresa (Jennifer O' Neill) macht. Während diese Ehe gleichsam eine negative Utopie von Liebe und Freiheit darstellt, führt die Geliebte tatsächlich ein unabhängiges und selbst bestimmtes Leben, was im ausgehenden 19. Jahrhundert großen Anstoß erregt. (Es war nicht dumm, die Rolle der modernen Frau mit einer Amerikanerin zu besetzen.) Dann verliebt sich Giuliana in einen jungen Schriftsteller, über dessen Talent die Eheleute anfangs streiten, und erwartet ein Kind von ihm. Tullios Eifersucht ist geweckt: Der Narzisst leidet Höllenqualen. Eine bittere, zunächst aber erotisch hoch aufgeladene Comedy of remarriage (es war auch nicht dumm, die Rolle der Ehegattin mit dem seinerzeit regierenden Sexidol Italiens zu besetzen) entspinnt sich, die tragische Konsequenzen haben wird.

Die Besetzung des Films wurde seinerzeit heftig kritisiert (Visconti selbst hätte sich in den Hauptrollen wohl Alain Delon und Romy Schneider gewünscht), aber mir erschien sie beim Wiedersehen mehr als nur hinreichend. Giannini rechnet die Immoralität Tullios scharf aus, Antonelli entwickelt eine tiefe Verletzbarkeit. Sie können gar keine autonomen Figuren sein, ihr Innenleben muss begrenzt bleiben (reich ist es trotzdem), denn sie sind Spielbälle der gesellschaftlichen Konventionen. Dieses Dekorum lässt keine Intimität zu. Visconti seziert die Verhältnisse mit einer analytischen Kälte, die auch im Rückblick nicht an Temperatur hinzugewinnt. Noch einmal zeigt er sich als ein entschiedener Stilist. Diese Ästhetik der Eleganz transportiert nicht nur Emotionen, sondern auch politische Aussagen. Die Kamerafahrten eröffnen ungekannte Resonanzräume zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, führen elegant das Private und seinen historischen Hintergrund zusammen. "Was mich immer interessiert hat", sagte er einmal, „war das Studium einer kranken Gesellschaft.“ Das letzte Bild von „Die Unschuld“ ist indes nicht ganz ohne Zuversicht. Es zeigt Teresa, die sich im Morgengrauen aus Tullios Haus schleicht. Die Moderne entkommt.

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