Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier
Der 35. Geburtstag eines Filmemachers gehört nicht unbedingt zu den Jubiläen, die Feuilletons oder Fernsehsender auf keinen Fall verpassen sollten. Für Xavier Dolan mag eine andere Zeitrechnung gelten. Die Karriere des Goldjungen aus Québec kannte bisher keine Verschnaufpause. Die Hälfte seines Lebens hat er hinter der Kamera verbracht; vor ihr steht er bereits seit 30 Jahren.
Er ist nach wie vor ein Ausbund an Jugendlichkeit. Das muss die Programmplaner von "One" mächtig beeindruckt haben. Der Sender, der ursprünglich ein jüngeres Klientel zum Fernsehen bekehren sollte, aber die Sendezeit vorwiegend mit Serien füllt, die lange vor Dolans Geburt entstanden sind, feiert dessen 35. ausgiebig. Zum einen mit vier seiner acht Kinofilme, darunter sein Regiedebüt, die muntere Zerfleischungsorgie »I killed my Mother«, die traumverlorene Menage à trois »Herzensbrecher« sowie »Matthias und Maxime«, der angeblich seine letzte Kinoregie bleiben soll, auf mich aber vor vier Jahren so frisch wie ein zweiter Erstlingsfilm wirkte. Des Nachts läuft als deutsche Erstaufführung mehrmals (z.B. heute) seine erste TV-Serie »Die Nacht, in der Laurier erwachte«. Ein kleines Porträt gibt es zudem. Die Mediathek hält das Programm noch bis Mitte April vor.
Ich mag mich partout nicht damit abfinden, dass Dolan seit geraumer Zeit seinen Abschied vom Kino – als Regisseur, nicht als Darsteller -, ankündigt. Er ist ein Glückskind seines Metiers, seine Filme funkeln vor Begeisterung für dessen Möglichkeiten. Er brennt doch für seinen Beruf, bei dem er immer aufs Ganze geht, sich als Mitproduzent angeblich regelmäßig verschuldet und monatelang im Schneideraum austobt. Kann es einem wie ihm genügen, fortan nur noch Werbeclips oder Videos mit Adele zu drehen? Ich fürchte, dass dies eventuell keine rhetorische Frage ist. Also habe ich »Die Nacht, in der Laurier erwachte« (im kanadischen Original trägt er noch seinen Nachnamen Gaudreault) unter zähneknirschendem Vorbehalt als eine Summe genommen, als Fazit dessen, was er im Regiestuhl erzählen will und bin ausnahmsweise zum binge watcher geworden. Meine Skepsis gegenüber dem Serienhype war bislang vor allem in dem Argwohn begründet, sie spielten hemmungslos auf Zeit: als sei das Format, die schiere Dauer die eigentliche Attraktion und wichtiger als die Geschichte. Aber Dolans Fünfteiler ist ziemlich atemlos und grandios überladen: ein Hochdruckkessel der verdrängten Gefühle, der wüst zwischen den Zeitebenen wechselt und eine halluzinatorische Dringlichkeit besitzt. Dolan öffnet die Wunderkammer, als die er das Kino immer begriffen hat und gibt sich freie Hand, sich exzessiv aus ihr zu bedienen.
Die Familiensaga beruht auf einem Theaterstück von Marc Michel Bouchard, dessen Thriller »Tom à la ferme« Dolan bereits als »Sag nicht, wer Du bist« verfilmt hat. Die Zeitsprünge gibt es offenbar im Stück nicht, Dolan will jeder Figur eine back story geben. Er hat weitgehend das Ensemble der Bühneninszenierung übernommen (sie wirken unverbraucht und sind alle großartig); den Benjamin der Familie, Elliot, spielt er hingegen selbst. Die Kamera führt André Turpin, mit dem Dolan schon mehrfach gearbeitet hat und die schneidende Partitur hat teilweise Hans Zimmer komponiert.
Auf der Gegenwartsebene liegt Mado, die Matriarchin des Larouche-Clans (verkörpert von der unverzichtbaren Anne Dorval, die bei diesem Regisseur stets wacker für nonchalant-monströse Mutterfiguren bürgt) im Sterben. Ihre vier Kinder, allesamt Zwangscharaktere, versammeln sich um ihr Totenbett. Elliot unterbricht seine Entziehungskur und begibt sich kurzzeitig in die Obhut seines Bruders Denis, der seine Wohnung zumüllt, seit ihn seine Frau mit den Töchtern verlassen hat. Dem Ältesten, Julien, fällt es schwer, dem Leben und seinen Mitmenschen ins Gesicht zu sehen; er holt gerade ein Literaturstudium nach, aber es ist fraglich, ob er sich damit neu erfinden kann. (Es gibt unendlich viel, was er seiner Frau Chantal verheimlicht.) Selbst Mireille, die die Familie aus ihrem Leben gestrichen hatte, reist aus Montréal an, wo sie zu einer Expertin für Einbalsamierungen wurde. Dieses Talent wird sie nun in der verlorenen Heimat einsetzen.
Vor 30 Jahren, als Mado für das Amt der Bürgermeisterin kandidierte, trug sich etwas zu, das die Familie seither rätselhaft zerrissen hat. Der Nachbarsjunge Laurier, in den Mireille verliebt war, soll versucht haben, sie zu vergewaltigen. Julien konnte es angeblich im letzten Augenblick verhindern. Die Zwei hassen sich seitdem zutiefst. Rasch kommen Zweifel auf, ob diese Geschichte stimmt. Warum hat Mado im letzten Moment ihr Testament geändert und Laurier als alleinigen Erben eingesetzt? Dass Mireille damals ein Trauma erlebte, steht außer Frage. Eine naheliegende Spur wäre ein Inzest, der vertuscht werden sollte. Aber Dolan hat Überraschenderes mit den Figuren vor.
Die einzelnen Folgen greifen den Serientitel auf: »Die Nacht, in der...«. Danach geht es um eine Entdeckung, um Begreifen, um Aufwachen. Jede Episode beginnt mit einem Zitat – meine heutige Überschrift stammt von Shakespeare. Und es ist immer spannend, wann wohl der Vorspann einsetzt, oft lange nach dem Beginn der Episoden. Er entzündet sich gleichsam an der Flamme eines Zippo-Feuerzeugs, bevor das visuelle Inventar eines Mysterythrillers entfaltet wird. Obwohl das Drehbuch tief in der Vergangenheit schürt, zielt es beharrlich auf die Zukunft. Es dringt auf eine Katharsis, will die Weichen für das Leben der vier, fünf, sechs Hauptfiguren neu stellen. Die Sonne spielt eine zentrale Rolle, sowohl als bestürzend warmer Lichteffekt wie als Motiv. Sie verspricht Klärung der verworrenen Verhältnisse. In der letzten Episode versammeln sich die Geschwister erneut an einem Krankenbett, diesmal liegt Elliot darin. Sie könnten zu einer Gemeinschaft werden, nachdem sie ihr infernalisches Pensum absolviert haben. »Die Nacht, in der Laurier erwachte« birst vor Hoffnung.
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