Das verlorene und das gewonnene Paradies
An das Neue geht man nie voraussetzungslos heran. Die Neugier kann noch so überschäumend sein, man bringt immer etwas Vertrautes mit. Keine Carte blanche ist ganz weiß. Die Vergangenheit ist unentrinnbar, selbst im Aufbruch zu neuen Ufern.
Das klingt wie eine Losung zum Jahresbeginn, ist aber der Auftakt einer Opernkritik. Vor ein paar Tagen sah ich endlich Wim Wenders' ersten Ausflug in dieses Genre, seine Inszenierung von Georges Bizets »Les pêcheurs de perles«. Ihre Premiere feierte sie schon vor sieben Jahren und wurde seitdem bereits zweimal wieder auf den Spielplan genommen. Aber widrige Umstände verhinderten bis zur letzten Woche beharrlich, dass ich sie entdeckte. Erstaunlich, dass bisher noch keine Aufzeichnung auf DVD oder Blu ray erschienen ist. Ende Januar und Anfang Februar lässt sich dieser Schatz noch dreimal in der Berliner Staatsoper bergen.
So berühmt wie "Carmen" ist Bizets erste Oper nie geworden, ihre Rezeptions- und Überlieferungsgeschichte steckt voller Wechselfälle. Für sein Operndebüt hätte der Regisseur getrost eine sichere Bank wählen können, einen Dauerbrenner. Das ist nicht seine Art. Es gab wohl auch Pläne, dass er Wagner in Bayreuth inszenieren sollte. Aber dieser Künstler nutzt jede Gelegenheit, vom Deutschsein erlöst zu werden. Deshalb alles auf Anfang, lieber ein ungeläufiges Werk, um die neue Disziplin in Angriff zu nehmen. Der Auftrag kam von Daniel Barenboim, Wenders hatte Carte blanche. Man ging gemeinsam auf Risiko, wenngleich nicht rückhaltlos. Zu Bizets Perlenfischern, das hat Wenders damals immer wieder erzählt, hat er eine besondere Verbindung. Als er sich 1978 in San Francisco mit seinem „Hammett“-Film plagte – sein Produzent Francis Coppola war wohl kein amerikanischer Freund - fand er abends Trost in einer Bar, deren Jukebox mit klassischer Musik bestückt war. Eine Arie und ein Duett aus Bizets Operndebüt bewegten ihn ganz besonders. Das ist schon mal ein wunderbarer Anfang: Die Jukebox mag ein archetypisches Wenders-Requisit sein, aber eine mit klassischem Repertoire ist eine staunenswerte Konjunktion.
Auch ich ging natürlich nicht voraussetzungslos an diesen Januarabend heran. Die damalige Resonanz war mir noch lebhaft in Erinnerung. Die Kritiken waren, gelinde gesagt, durchwachsen: allenfalls verhalten wohlwollend, zum Teil verheerend; der "Tagesspiegel" schrieb schulmeisternd von "Anfängerfehlern". Da waren bestimmt auch Vorurteile im Spiel gegenüber Filmemachern, die sich an der Oper versuchen; mithin wurde Daniel Barenboims Dirigat auch mächtig ausgespielt gegen die vermeintliche Konventionalität der Regie. Im Gegenzug wirkten wohl auch zu hohe Erwartungen. Sagen wir es mal so: »Paris, Texas«, »Der Himmel über Berlin« oder »Pina« wären hier gewiss ein verhängnisvoller Maßstab, aber ich freue mich auch über den Wenders, der »Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten« gedreht hat.
Mit »Les pêcheurs de perles« hat er sich eine Oper ausgesucht, die chronisch aus dem Repertoire verschwindet, um dann überraschend wieder aufzutauchen. Seit der Premiere vor 160 Jahren wurde das Ende des Librettos mehrmals verändert und auch musikalisch überschrieben – gerade so wie ein Drehbuch, das durch die Hände vieler Produzenten und Regisseure geht. Wenders hat sich für den ursprünglichen Schluss entschieden, der untragischer als die späteren Varianten ist. Die Dreiecksgeschichte im Milieu von Perlenfischern "auf einer fernen Insel in einem der sieben Meere" mutet zunächst einfach an, wird aber komplizierter. Im ersten Akt kehrt Nadir nach vielen Jahren, in denen er sich von dem Wahn einer unglücklichen Liebe befreien musste, in die Heimat zurück. Zurga, der Anführer der Gemeinschaft, ist hocherfreut über das Wiedertreffen mit seinem Jugendfreund. Alsbald tritt die Priesterin Leila auf den Plan, die die Fischer vor dem Zorn des Gottes Brahma schützen soll (bei der fernen Insel handelt es sich um das alte Ceylon), was nur unter Einhaltung eines Keuschheitsgelübdes gelingen kann. Allmählich stellt sich heraus, dass die Drei eine romantische Vorgeschichte verbindet, die verhängnisvoll in die Gegenwart hineinwirken wird. Das Programmbuch legt die Spur aus zu einem homoerotischen Aspekt in der zertrennlichen Männerfreundschaft, der seinerzeit von den Rezensenten dankbar aufgegriffen wurde. Ein bisschen queeres Schillern muss vielleicht sein als Garant der Aktualisierung, denn im Licht gegenwärtiger kolonialismuskritischer Debatten steht der Exotismus des Stücks auf ziemlich verlorenem Posten. Der religiöse Fanatismus, der in dieser Gesellschaft herrscht, ist greifbar, aber ein eher nachrangiges Motiv.
Wenders ficht dergleichen nicht an. Er hat keine Revision im Sinn, sondern eine frische, eigene Interpretation. Thematisch lässt sich dieser Stoff schwerlich kurzschließen mit dem, was ihn im Kino umtreibt. Warum auch? Der Regisseur setzt sich Unbekanntem aus. Der Auftrag ist schon allein eine handwerkliche Herausforderung. Wie soll er die große Bühne bespielen? Wie soll diese überhaupt gestaltet sein? Wie stellt er die Protagonisten in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander sowie zu dem großen Chor? Das Bühnenbild ist von minimalistischer Wucht. Der abstrakt gehaltene Strand, der sich in leichter Schräge zum Publikum hin neigt (das Meer liegt gleichsam im Orchestergraben), eröffnet dezent dramatische Möglichkeiten. Wenders verfährt wie ein Meister des CinemaScope, der versiert die Diagonale einsetzt und zuweilen die gesamte Breite der Bühne nutzt, um das Getrenntsein der Liebenden zu unterstreichen.
Mindestens ebenso entscheidend ist, was meine Begleiteri als das „Filmische“ in der Inszenierung wahrnahm. Zuerst fielen uns natürlich die Zwischentitel auf, namentlich das oben erwähnte Setting der Handlung. Vor der Bühne hebt und senkt sich ein Gazevorhang, der transparent ist, aber zugleich dicht genug, um als Projektionsfläche für schwarzweiße Filmaufnahmen zu dienen. Wenders nutzt ihn einerseits als atmosphärisches Element, Meereswogen, Palmen, Wolken sowie ein Vollmond etablieren Ort, Tageszeit und Stimmung. Er nimmt jedoch auch eine dramaturgische Verdichtung vor, indem er Rückblenden einflicht. Die projizierten Szenen illustrieren nicht einfach die Erinnerungen der Liebenden, die im Text beschworen werden. Sie gewinnen vielmehr eine eigenständige, intime Präsenz, die sich durch das Schwarzweiß und die Nähe des Kamerablicks von der Bühnenszenerie abhebt. Überhaupt gewinnt der Raum eine eigentümliche plastische Tiefe in Wenders' Inszenierung. Stets findet man in ihr den Filmregisseur wieder, der seit Jahren beharrlich mit 3D experimentiert. Die Dreidimensionalität ist dabei keine ausschließlich räumliche Kategorie, sondern auch eine akustische. An entscheidender Stelle dringt Nadirs Stimme aus dem Off, aus der Ferne des Bühnengrunds, nach vorn.
Braucht Wenders diesen Rückgriff auf filmische Gesten als Sicherheitsnetz? Vielleicht. Auf jeden Fall erweitert er die Ausdrucksmöglichkeiten, die ihm auf der Bühne zu Gebot stehen. Ich glaube, er ist leichten Herzens an diese Aufgabe herangegangen, wenngleich gewiss auch eingeschüchtert. Das Ergebnis wirkt ungezwungen: voll tastender Entdeckerfreude und befreit von der Last, unbedingt ein Meisterwerk zu schaffen. Es hallt nach, ein paar Tage später fügt es sich weiterhin zusammen. Die Perlenfischer erweisen ihre Haltbarkeit: Das Publikum ging am Abend der Wiederaufnahme begeistert mit. Warum sollte es weniger klug sein, als die Kritiker vor sieben Jahren?
Noch etwas anderes bleibt, etwas köstlich Unerledigtes. Wenders' Inszenierung unterhält eine innige Verbindung zur Filmgeschichte. Die ist so naheliegend, dass ich sie nicht als bahnbrechende Entdeckung meinerseits verkaufen kann. Erstaunlicherweise ist sie bisher jedoch nie zur Sprache gekommen, meines Wissens nach auch nicht in den zahlreichen Interviews, die der Regisseur 2017 gab. Die »Perlenfischer« sind ein faszinierendes Gegenstück zu Murnaus Südseefilm »Tabu«, miteinander verwandt durch das Milieu, durch ähnliche Konstellationen und den Konflikt zwischen Liebe und altem Stammesgesetz. Auch Murnau setzte sich einer fernen Welt und ungewohnten Arbeitsbedingungen aus, voller Schaulust und ohne Furcht vor Exotik. Auch er musste eine neue Sprache formulieren: Sein letztes Werk ist ein Stummfilm mit Ton. »Tabu« hat er in zwei Akte geteilt, der erste heißt »Das Paradies«, in ihm herrscht Freiheit, gar Fröhlichkeit; über den zweiten, »Das verlorene Paradies«, fallen dunkle Schatten. Kein Zweifel, Wenders hat ihn gesehen. Er kennt Murnau genau. Ich vermute, er musste ihn für diese Arbeit vergessen. Das wäre ein zweites Wunder der Ungezwungenheit.
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