Das Gewicht des Wassers
Es gibt ein filmisches Triptychon, von dessen Abschluss ich noch weit länger und intensiver träume als von der Komplettierung der »Drei Musketiere«. Der geplante Film beschäftigt meine Phantasie seit Anfang der 1990er Jahre und hätte »Gittes vs. Gittes« heißen können. Wenn Sie bei dem Namen hellhörig werden, ahnen Sie bereits, dass es ans Eingemachte geht: eine Fortschreibung von »Chinatown«.
Als dessen Drehbuchautor Robert Towne vor fünf Wochen im Alter von 89 Jahren starb, dominierte dieser Titel Nachrufe auf ihn, was zwar ungerecht, aber triftig ist. Seit einem halben Jahrhundert wird sein Drehbuch es als eines der besten, wenn nicht das beste in der Geschichte Hollywoods gefeiert. Es gehört zum Lehrplan ganzer Generationen von Filmstudenten: als Beispiel für Perfektion in einer Disziplin, die ihrem Wesen nach unvollständig ist. Mithin überschattet »Chinatown« das Werk seines Autors, der ohne Zweifel der maßgebliche Szenarist des New Hollywood war. (Paul Schrader wird das nicht gern hören, William Goldman hingegen hätte es wohl nicht gestört, da er sich immer ein wenig abseits vom Kino der Coppolas, Scorseses und Spielbergs hielt.) Townes heroische Epoche lag in den 1970er, wo ihm der Hattrick von drei Oscar-Nominierungen gelang, für Filme, die in einem Zeitraum von anderthalb Jahren herauskamen: »The Last Detail« (Das letzte Kommando), »Shampoo« und eben »Chinatown«, für den er die Trophäe dann 1975 auch gewann. Zu diesem Zeitpunkt genoss er bereits einen legendären Ruf als script doctor, dessen Nachbesserungen entscheidend zum Gelingen von »Bonnie & Clyde«, »Der Pate« und anderen Klassikern beitrugen. Er besaß ein Gespür für den individuellen Rhythmus eines Films und das Talent, Dialoge zu schreiben, die einen innigen Zusammenhang mit der Persona eines Schauspielers besitzen - nicht nur Jack Nicholson, auch Warren Beatty und später Tom Cruise. Er hatte ein Faible für das Gegenläufige, eine Sterbeszene kann bei ihm von homerischen Gelächter gebrochen oder eine Liebeserklärung mit einer Ohrfeige pariert werden. Als script doctor ging er mit einer frischen Perspektive an problematische Szenen heran und schöpfte ihr unentdecktes Potenzial aus.
„Chinatown“ traf eine Grundstimmung der Desillusionierung in der ausgehenden Nixon-Ära: den Verlust politischen und privaten Vertrauens, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Schaltstellen der Macht und einen Korruptions- und Umweltskandal, der auf eine Schlüsselperiode in der Geschichte von Los Angeles anspielte. "Newsweek" bezeichnete seinerzeit die Intrige, die Privatdetektiv J.J. Gittes aufdeckt, als "Watergate with real water." Der Streit um die Wasserrechte der Stadt, die zwischen Ozean und Wüste liegt (auch bekannt als "The Rape of Owen Valley"), wurde bereits Anfang des letzten Jahrhunderts ausgetragen, aber Towne übertrug sie in die 1930er Jahre, die Epoche, in der Los Angeles sich am weitesten ausdehnte. Die Gier als Triebfeder der Stadtentwicklung und des Plots formulierte Towne in dem Motto aus, das er dem Drehbuch voranstellte: "There it is, take it!" Der Stoff war eine Herzensangelegenheit für ihn, er stammt aus dem Vorort San Pedro und musste als Heranwachsender mit ansehen, wie die pastellfarbene Schönheit seiner Heimat zerstört wurde. Anfang der 1970er engagierte er sich mit Umweltschützern gegen Landverkäufe in den Bergen Santa Monicas.
Als »Chinatown« 1974 herauskam, waren Sequels in Hollywood noch keine ausgemachte Sache. Aber der Erfolg ließ die Beteiligten – Towne, Jack Nicholson, Produzent Robert Evans; Roman Polanski verschwand nach seiner Justizflucht aus der Gleichung – eine Fortsetzung nie ganz aus den Augen verlieren. Die Verträge der ersten beiden enthielten eine Klausel, die es Paramount untersagte, ein Sequel oder eine TV-Serie ohne ihre Mitwirkung zu produzieren. Über die sechzehnjährige, unvergleichlich dramatische Entstehung der Fortsetzung »The Two Jakes« (Die Spur führt zurück) könnte man ganze Bücher schreiben. Dass sie 1990 entstand, ist ein ziemlich antizyklisches Wunder, an dem Freundschaften zerbrachen und mit dem Paramount ein Vermögen verlor. Gleichviel, Towne und Nicholson (nun auch als Regisseur) schrieben die Geschichte von Gittes und seiner Stsdt auf faszinierende Weise weiter. 1948 verändert sich das Antlitz von LA dank der küstennahen Ölvorkommen ("Hier gibt es inzwischen mehr Bohrtürme als Palmen!") und des explodierenden Immobilienmarktes. 1990, als sich der epochale Misserfolg von »The Two Jakes« noch nicht abzeichnete, planten Towne und Nicholson jene weitere Fortsetzung, von der ich seither träume.
In ihr wollten sie die letzte Phase der Verheerungen der Stadtentwicklung nachvollziehen. Die Zeitleiste des ehrgeiziges Unternehmens ist übrigens eng mit der Biographie des Schauspielers verbunden, der erste Teil spielt in dessen Geburtsjahr, der dritte in dem Jahr, als Towne und er sich im Schauspielkurs von Jeff Corey kennenlernten; ihr Detektiv trägt überdies den Namen eines gemeinsamen Freundes. »Gittes vs. Gittes« sollte 1959 spielen, einem in vieler Hinsicht neuralgischen Zeitpunkt in der Geschichte Südkaliforniens. Zum einen begann der Ausbau des Freeway-Netzes, der letztlich dazu führte, dass die Hälfte der Stadtfläche von Los Angeles nur noch von Autos genutzt wird. Zum anderen wurde in diesem Jahr die Schuldfrage in Scheidungsprozessen nach kalifornischem Recht aufgehoben. Der Privatdetektiv - der schon 1937 glänzend von "Eheangelegenheiten" lebte und 1948 an der schlagartig angestiegenen Scheidungsrate der Nachkriegszeit so viel verdiente, dass er sich ein eigenes Bürogebäude leisten konnte -, hätte 90 Prozent seines Einkommens eingebüßt.
Ich bin nicht sicher, ob hierfür je ein fertiges Drehbuch existierte – Towne war notorisch unbegabt für das Einhalten von Abgabeterminen und die auszehrend turbulente Entstehungsgeschichte von »The Two Jakes« belastete seine Freundschaft zu Nicholson enorm. Wenn doch, würde ich es brennend gern lesen. Dann wäre der Traum ein großes Stück weit realer geworden. Von Towne stammt schließlich eine der schönsten, trotzigsten Definitionen seines Metiers. "A great screenplay", sagte er einmal, "reads like it's describing a a movie already made."
Ich denke, hier ist der Zeitpunkt für eine Unterbrechung gekommen. Fortsetzung folgt.
Kommentare
Towne III
Träum weiter. Towne hat oft genug gesagt (mir auch), dass eine Trilogie nie geplant war.
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