Das Flüstern der Schornsteine

Das Rennen um den Auslandsoscar nimmt an Fahrt auf. Fast täglich prasseln Pressemitteilungen ins Haus, denen zu entnehmen ist, welches Land welchen Film nominiert hat. Die Entscheidungen hängen nicht nur von der Qualität ab, sie sind stets auch ein Spielfeld von Missverständnissen, Projektionen - und aktuell Fragen der nationalen Identität.

Gestern beispielsweise wurde gemeldet, dass »Emilia Pérez« von Jacques Audiard zum französischen Kandidaten gekürt wurde. Das ist nicht nur angesichts der letztjährigen Irritationen (»Geliebte Köchin« statt »Anatomie eines Falls«) eine gute Nachricht. Es bedeutet auch, dass die Co-Produktion »All we imagine as light« von Payal Kapadia nun für Indien ins Rennen gehen könnte. Die hiesige Einreichung wiederum hat bereits zu angestrengten Debatten geführt (Was ist deutsch an »Die Saat des heiligen Feigenbaums«, außer dem Geld? Und was sagt das über die heimischen Wettbewerber aus?), die mich an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen müssen. Statt dessen möchte ich ins Jahr 1976 zurück blenden, als die eingangs skizzierte Gemengelage dazu führte, dass der polnische Kandidat von Anfang an keine Chance hatte. Er kam mit den besten Empfehlungen, aber es half nichts, dass der Regisseur Andrzej Wajda hieß und er mit »Das gelobte Land« einen ausgezeichneten Film vorlegte.

Ich sah ihn mir unlängst an, weil er auf einem Roman von Wladislaw Reymont beruht, der mit »Die Bauern« die Vorlage zu dem in der letzten Woche gestarteten »Das Flüstern der Felder« verfasste. Beide Romane sind Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelt, aber ihr Setting unterscheidet sich grundlegend. »Das gelobte Land« spielt in Lodz, das sich anschickt, zum Zentrum der Textilindustrie zu werden. Zahlreiche Flüsse und Bäche spenden das hierfür notwendige Wasser im Übermaß. Es herrscht ein früher, schon maßloser Brutalkapitalismus, der noch auf feudalen Strukturen beruht. Jeder ist hier in Eile, auch im Bordell werden unablässig Geschäfte gemacht, und im Theater geht es zu wie an der Börse. Die Schornsteine rauchen Tag und Nacht, aber dank der rabiaten Verdrängungsmechanismen weiß niemand, wie lange: Brandstiftung dient als ein probates Mittel, um sich mit Versicherungszahlungen zu sanieren oder Konkurrenten in die Insolvenz zu treiben. Die Boomtown, deren Einwohnerzahl sich im Lauf des 19. Jahrhunderts vertausendfacht, ist ein Schmelztiegel, in dem Polen, Juden und Deutsche ("die Fritze") zusammenleben; es wird in Rubel und Kopeken gerechnet. Wajda inszeniert ein brodelndes Sittenbild der sozialen und kulturellen Umbrüche. Wenn eine neue Fabrik eröffnet wird, segnen Priester die Webstühle und Maschinen. Hier lassen sich Vermögen in Windeseile scheffeln. Manch einer sehnt sich nach dem Lodz zurück, in dem es "noch Ehrlichkeit gab und keine Millionäre".

Im Schlepptau von Reymont zeichnet Wajda die Großstadt als ein Monstrum. Sie unterscheidet sich letztlich gar nicht so sehr von dem Dorf in »Die Bauern«. Die Engstirnigkeit ist hier nur polyglott. Auch Wajdas Drehbuch musste etliche Nebenhandlungen der Vorlage tilgen, ohne Reymonts Fresko zu schmälern; allerdings erfindet es auch bezeichnende Szenen hinzu, namentlich das klassenkämpferische Finale. Es konzentriert sich auf den Aufstieg dreier Freunde, die jeweils ein Milieu verkörpern: der polnische Adlige Karol, sein Faktotum, der Jude Moryc, sowie der Deutsche Maks. Die Gier verbindet sie vielleicht doch stärker als Freundschaft; sie sind einander nützlich. Karols Machenschaften stehen im Zentrum, dem Wajdas Stammschauspieler Daniel Olbrychski ein mulmig einnehmendes Charisma verleiht. Moryc (Wojciech Pszoniak, den der Regisseur später als Danton und Korczak besetzte) ist ein gewiefter Spekulant. Maks' besondere Qualifikationen sind mir entfallen (womöglich hat er von Haus aus Geld), aber er ist ein ebenso unerbittlicher Hedonist wie Karol. Sie alle besitzen Elan bis zum Gehtnichtmehr.

Wajda ist fasziniert von ihrer erfindungsreichen Habgier. Das gefiel ihm an den Projekt, wie er im Bonusmaterial der DVD von Second Run berichtet: "Nun konnte ich meinen amerikanischen Film machen: über Geld!" Fürwahr, das kam im Kino des Ostblocks eher selten vor: ein Epos, dessen Impulse Habsucht, Ambition, sexuelle Ausschweifung und brutale Gewalt sind. Auf Reymonts Roman, der nicht zum Schulstoff gehörte, wies ihn sein Kollege Andrzej Zulawski hin. Er entdeckte gleichsam einen polnischen Zola, einen visionären Realisten. Die szenische Anschaulichkeit elektrisierte ihn - der Autor besaß ein fotografisches Gedächtnis für kleinste Details, das sonst nur Maler haben. Durch ihn lernte er Lodz, wo er an der Filmschule studiert hatte, völlig neu kennen.

Um den Roman umzusetzen, bietet der Regisseur alles auf, was ihm zu Gebote steht: eine bis in Nebenrollen schillernde Besetzung; eine mal zupackende, mal gelassene Kameraführung von Witold Sobocinski und Edward Klosinski (die flexible Subjektivität ist atemraubend); eine sublime Partitur von Wojciech Kilar, die mal romantisch-nostalgisch, mal industriell und am Ende militärisch klingt. Wajda wirkt wirklich entfesselt in diesem Film, wo er einen humanistischen Blick auf entmenschlichende Verhältnisse wirft. Die polnischen Zensoren legten der Kritik nahe, den Film zu loben, aber seinen Regisseur besser nicht zu erwähnen. Dann wurde er für den Auslandsoscar nominiert.

In Los Angeles, erzählt Wajda im Bonusmaterial, wurde er mit zwei verblüffenden Reaktionen konfrontiert. Die erste war noch unverfänglich. Wie viel haben bloß die Dekors der Straßenszenen gekostet, wollte man von ihm wissen. Nichts, konnte er erwidern, Lodz war von den Weltkriegen verschont geblieben, die Straßenensembles der Gründerzeit waren noch intakt. Die zweite Reaktion war verheerend. Weil es ein polnischer Film war, musste er selbstverständlich antisemitisch sein. Gegen einen solchen Totschlagvorwurf ist man machtlos. Jedoch: Niemand wird vom Sarkasmus des Films verschont (abgesehen von den Opfern der Zustände), alle Akteure werden nach den Regeln der Satire entlarvt. Und Moryc ist weitaus ambivalenter gezeichnet als im Roman. Im Dreigespann ist er der Umtriebigste, seine Agilität ist funkelnder. Seine Habgier ist ungeteilt, unbefleckt vom Hedonismus. Karol verrät seine Geliebten, Moryc hintergeht nur ebenso ruchlose Spekulanten. Einmal winkt er gar der Kamera zu, schließt sie ins Vertrauen. Er wird mit großer Intimität dargestellt.

Wajda war schockiert und zutiefst verletzt. Der Film wirkte in ihm weiter, so wie kein anderer davor und danach. Anfang dieses Jahrtausends bearbeitete er ihn noch einmal, schnitt einige Szenen und Nuancen, um den Vorwurf nachträglich zu entkräften. Die Konkurrenz in der Oscar-Kategorie war allerdings auch hochkarätig, »Der Duft der Frauen« von Dino Risi war mit im Rennen. Dass Akira Kuroswas „Uzala, der Kirgise“ am Ende gewann, muss man nicht bedauern - obwohl er die Frage der nationalen Identität aufwirft, als ein sowjetischer Film, aber inszeniert von einem Japaner.

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