Breit aufgestellt

Wenn ich an Jérôme Seydoux denke, fällt mir sofort ein herrlicher Satz von Butch Cassidy ein: "Heute tragen alle Leute Brillen, aber ich habe Visionen!" Letztere braucht man natürlich, wenn einem ein Konzern wie Pathé gehört. Beim Blick auf die Bilanzen hingegen kann eine Sehhilfe durchaus nützlich sein.

Brillen tragen im Seydoux-Clan allerdings seine Brüder Nicolas (der über die Konkurrenz Gaumont herrschte) und Michel (der viel Geld an "Cyrano de Bergerac" verdiente und eine Menge bei dem Vorhaben verlor, »Dune« von Alejandro Jodorowsky verfilmen zu lassen). Das muss nicht heißen, dass bei Jérôme nicht beide Sichtweisen zusammenfallen können. Als sich beispielsweise vor 15 Jahren abzeichnete, dass »Willkommen bei den Sch'tis« der erfolgreichste französische Film aller Zeiten geworden war, gab der Patron die Anweisung heraus, Pathé würde fortan nur noch Komödien herausbringen. Zum Glück ließ er sich diese Monokultur noch früh genug ausreden, die womöglich auch mit Blick auf den Export hätte verheerend ausfallen können. Schließlich soll sich ein Konzern breit aufstellen.

Die Visionen sind ihm seither nicht ausgegangen. Vor zwei Jahren berichtete ich an dieser Stelle ("Das halbe Gesicht" vom 4. 10. 22) von der monumentalen Neuausrichtung, die er Pathé nun verordnete. Man würde sich jetzt auf französische Klassiker konzentrieren und dabei nicht kleckern. Die zwei Teile der Drei Musketiere-Saga sollen zusammen 72 Millionen Euro gekostet haben, »Asterix und Obelix im Reich der Mitte« verschlang ebenso viel; , »Le Comte de Monte Cristo« mit Pierre Niney immerhin etwas über 42 Millionen; und gerade fiel die letzte Klappe für einen Zweiteiler über De Gaulle, dessen Gesamtbudget 37 Millionen umfasst. An den Kinokassen hat sich diese Großmannssucht bislang nur im Fall des Grafen ausgezahlt, der nach fünf Wochen sagenhafte 5,2 Millionen Zuschauer anlockte. Das kommerzielle Schicksal von Asterix & Obelix hätten nur größere Zauberkräfte als die von Miraculix retten können. Die »Musketiere« liefen zunächst gut an, bestimmt auch dank einer einnehmenden Besetzung ("Vier sympathische Hauptdarsteller", scherzte Libération, "pardon: drei – und Vincent Cassel"). Der erste Teil »D' Artagnan« stagnierte jedoch bei 3,3 Millionen verkauften Kinokarten in Frankreich und der Nachfolger »Milady« bei 2,57 Millionen. Von der Gewinnzone ist das Diptychon also weit entfernt. Man kann natürlich immer auf den Export hoffen. Aber auch da stockt es. Der Mitproduzent und deutsche Verleih Constantin sagte den für Dezember letzten Jahres geplanten Start von »Milady« ab und brachte den Titel im Mai klammheimlich auf DVD und Blu-ray heraus. Ein kapitaler Dämpfer, der auch insofern bedauerlich ist, weil der zweite Teil des Freskos seine Wucht auf der Leinwand am besten hätte entfalten können. Ein weiterer Mitproduzent ist das ZDF, was die Vermutung nahelegt, dass eventuell auch eine Auswertung als Miniserie ins Auge gefasst wurde. »Milady« endet wie der erste Teil mit einem Cliffhanger, der normalerweise eine Fortsetzung in Aussicht gestellt hätte.

Um zu ermessen, welch enormes Risiko der Visionär mit der Neuauflage des Dauerbrenners einging, muss man nur einmal schauen, in welchen Händen das Projekt lag. Die Initiative stammt von Dimitri Rassam, dessen Produktionsfirma Chapter 2 bislang mit „kleinen“ Komödien reüssierte, darunter »Der Vorname«. Die Szenaristen Alexandre de la Patellière und Mathieu Delaporte sind ebenfalls Spezialisten für dieses Genre (von ihnen stammen Bühnenvorlage und Drehbuch zu »Der Vorname«), auch Martin Bourbolon ist in dieser Disziplin bekannt geworden (»Mama gegen Papa« I und II) und hat sich mit »Eiffel in Love« nicht unbedingt als Regisseur für einen aufwändigen Historienfilm empfohlen. Allerdings sind sie alle im notorisch dynastischen System des französischen Kinos groß geworden. Dimitri ist der Sohn von Carole Bouquet und dem tolldreisten Produzenten Jean-Pierre Rassam (»Das große Fressen«), Alexandre ist der Sohn des Regisseurs Denys de la Patellière (der einige Louis- de-Funés-Vehikel, aber auch »Taxi nach Tobruk« inszenierte) und Martin wiederum der Sohn von Frédéric Bourbolon (der als Partner von Bertrand Tavernier für dessen Firma unter anderem den schneidigen »D'Artagnans Tochter« mit Sophie Marceau produzierte). Solch illustre Abkunft mag in Seydoux' Augen, der seinerseits eine Menge von Dynastien versteht, schon einen Vertrauensvorschuss wert gewesen sein.

Sie haben ihn aber auch verdient. Obwohl ich mittlerweile ein zunehmend melancholisch gestimmter Freund des Mantel & Degen-Films geworden bin, haben mich ihre Musketiere wirklich mitgerissen. So viel Elan kann das Genre heute haben! Hier ist eine wirklich frische Interpretation des Stoffes gelungen; nicht nur wegen des Handkameras-Realismus. Die Dialoge haben Esprit und die Gesten ebenfalls. Die Besetzung ist auch abseits der Titelhelden superb (Eva Green, Vicky Krieps, Marc Barbé, selbst Louis Garrel überzeugt als König, der einen neuen Religionskrieg vermeiden will). Hübsch auch, wie wenig städtisch Paris hier erscheint. D'Artagnans Duell mit den Dreien findet gar in einem Wald statt. Die vertrauten Figuren müssen sich nicht wesentlich ändern (Porthos ist nun bisexuell,das passt schon), dafür gibt das Drehbuch dem Plot von Dumas interessante Wendungen. Ich finde es eine spannende Umdeutung, wie der Film mittendrin zu einer Detektivgeschichte wird. Athos gerät unter Mordverdacht und seine Loyalität zum König steht plötzlich infrage, da er Protestant ist und sein Bruder die Rebellen in La Rochelle anführt. Um ihren Freund vor dem Schafott zu retten, müssen die anderen Musketiere auf eine Schnitzeljagd gehen und aus den drei Spangen des Romans werden Siegelringe. Monarchistisch bleibt das Ganze schon – Macron hätte seine Freude dran -, aber mit moralischen Widerhaken und galanten Loyalitätskonflikten. Und Eva Green ist eine bezwingende Gegenspielerin, eine raffinierte Todtäuscherin, die verschlagener ist als all ihre Vorgängerinnen, einschließlich Faye Dunaway. Ich hätte gern erfahren, wie es mit ihr, Athos, ihrem gemeinsamen Sohn und den anderen weitergeht. Den dritten Teil muss ich mir nun erträumen.

Pathé hat derweil zwei Ableger angekündigt, die in Kooperation mit Disney+ entstehen sollen, »Milady Origins« und »Black Musketeer«. Ob die Vorgeschichte der exquisiten Schurkin tatsächlich so ertragreich ist, bleibt abzuwarten. Aber der abessinische Musketier ( "Aus der Gascogne?“ -„Äquatorial-Gascogne!"), der im zweiten Teil immer im rechten Moment am rechten Platz ist, kann gern in Serie gehen.

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