Auch er lebte in seinen Träumen
In der Weihnachtszeit denkt man, aus praktischen und gegebenenfalls auch spirituellen Gründen, viel über Gastfreundschaft nach. Was mich in diesem Jahr auf Werner Grassmann bringt, den legendären Kinogründer in Hamburg. Ich lernte ihn während der Corona-Zeit bei den Recherchen zu einer Geschichte für epd Film kennen, in der es um Filmtheater ging, die seit Generationen von Familien betrieben werden.
Im Artikel war damals kein Platz, um seinem Charisma gerecht zu werden. Sein „Abaton“ war nur eines von mehreren Kinos, die ich den Blick nahm. Aber an keines denke ich seither so oft. Das hatte natürlich vor allem mit seiner Person zu tun. Seine verschmitzte Rüstigkeit und sein Faible für kluge Anekdoten begeisterten mich. Er gab großzügig Auskunft und war dabei nur selten auf Ergänzungen oder Korrekturen seines Sohnes Felix angewiesen. Besonders eingeprägt hat sich mir, wie er vom „Klima“ eines Kinoprogramms sprache. Die Säle und das eigentümliche Foyer des Kinos bekam ich seinerzeit nur kurz zu sehen. Im letzten Oktober lernte ich sie besser kennen, als ich in der Kritikerjury des Filmfests Hamburg saß. Das Abaton und das zugehörige Bistro, in dem man gut essen und trinken kann, wurden zum zuverlässigen Treffpunkt, zum Zentrum unserer Tätigkeiten. Werner Grassmann war inzwischen verstorben. Seine Gastfreundschaft hatte nun Felix geerbt, der stets zur Stelle war, wenn es Probleme mit nicht reservierten Karten oder Muße für einen Plausch gab. Dabei räumte er ein, im Augenblick Gast in seinem eigenen Haus zu sein: ein fast normaler Besucher des Filmfests, der neugierig das Programm verfolgte.
Sein Vater hatte damals unbedingten Wert darauf gelegt, mir zum Abschied ein Exemplar seiner Lebenserinnerungen „Hinter der Leinwand“ zu schenken, die 2010 im Nautilus Verlag erschienen waren und antiquarisch noch leicht zu erwerben sind. Das Buch stieß auch in unserer Jury auf reges Interesse und Felix spendierte einige Exemplare. Im Vorwort schreibt Michael Töteberg, das Abaton sei „keine Abspielstätte, sondern ein Ort der sozialen Kommunikation“. Das konnten wir fünf nur unterschreiben. Er nennt Werner Grassmann einen „Kinoerzähler“, womit er die ursprüngliche geplante Überschrift dieses Eintrags ärgerlicherweise anderthalb Jahrzehnte vorwegnahm.
Auf der Rückfahrt von Hamburg hatte ich damals vergnügt mit der Lektüre begonnen, die dann in der Folge aber kursorisch blieb, weil das Gespräch schon reichhaltig genug gewesen war und mir die Redaktion ohnehin im Nacken saß. In den letzten Tagen nahm ich mir Grassmanns „Film- und Kinogeschichten“ (so lautet der Untertitel) erneut vor, nicht weniger vergnügt als damals. Sie beginnen nach dem Krieg, wo es nicht „mehr um Leben und Tod, eher um Hungern und Frieren“ geht. Er schließt Freundschaft mit einem Nachkriegskameraden (er erfand gern Vokabeln), durch den er ersten Kontakt mit dem Filmgeschäft im weitesten Sinne hat. Der arbeitet nämlich als „Hakenkreuz-Tuscher“ für die britischen Besatzer. Da sind wir gleich mittendrin in einem gesellschaftlichen Klima, in dem die Nazizeit als Personal und Geist beharrlich gegenwärtig bleibt. An Chuzpe gebricht es Gassmann nicht, dazu muss man nur das Kapitel „Dosen für den Staatsanwalt“ lesen. Auf verschlungenen Wegen gelangt er zur Gründung seines ersten Kinos, dem „Studio 1“, das 1953 die Pforten öffnet. Es ist mit nur 25 Plätzen das kleinste der Stadt, über das aber die großen Zeitungen schreiben. Angeblich reicht seine Ausstrahlung bis nach Manila. Voller Ironie und ohne falsche Bescheidenheit berichtet er davon, wie er das Programmkino erfindet. Alles handgemacht. Bei ihm erfährt man alles Nötige über Bestuhlung, Beleuchtung, Projektion, Kundenbindung und Pressepflege. Diese Initiative genügt ihm nicht, bald ist Grassmann ein Hans Dampf in allen Kulturgassen, dreht Wochenschauen, leitet Clubs und organisiert Künstlerfeste. Bald ist er ein ausgebremster Kinobesitzer, denn die 25 Plätze rentieren sich nicht. Als in den Hamburger Studios wieder große Filme entstehen, ist er mit dabei, zuerst als „Assistent“ des Szenenbildners von Hein Heckrodt (sic) und macht sich als Kaffeeholer bald unentbehrlich.
Sein Ruf reicht über die Hansestadt hinaus, unversehens wird ihm der Posten des Pressechefs bei Süddeutschen Rundfunk angeboten, für den er sich nicht qualifiziert fühlt, aber prächtig ausfüllt. Er erlebt die Epoche der Live-Fernsehspiele mit, bleibt auch auf diesem Feld innovationsfreudig und hat teil an der Erfindung der Tagesschau. Als einen Aufschneider habe ich ihn nicht kennengelernt, aber eine lässliche Flunkerei gestehte ich ihm hier und da gern zu. Immer wird ausgiebig gezecht. Grassmann ist begabt für die Geselligkeit. Er dreht Reportagen für Funk und Fernsehen, tummelt sich für einen Dokumentarfilm auf einem Bergungsschlepper bei Windstärke 12 in der Nordsee. Manchmal ist sein Buch ein Abenteuerroman, meist jedoch eine Schelmengeschichte. Das Glück ist ihm in fast jedem Wirkungsbereich hold, manchmal lächelt es immerzu, Rückschläge gibt es im Gegenzug auch reichlich. Tatsächlich schreibt er einen Schelmenroman. Seine Barbarella-Persiflage „Evarella“ weckt gar Interesse in Hollywood, soll dann beim ZDF in Serie gehen, aber dort gibt es Gremien.
Zurück in Hamburg gründet er die Film Coop, tut sich mit Helmut Herbst und anderen unabhängigen Filmemachern zusammen. Wovon er nicht erzählt, die Regie und Produktion von Filmen, könnte Bände füllen. Die bewegte Produktion von „Fußball wie noch nie“ hingegen schildert er ausführlich. Das Experiment soll als Schmalfilm beginnen („Alle Macht für Super 8!“), wächst sich dann zu einem Riesending mit fünf, sechs Kameras aus, die in Manchester zusehen, wie George Best während eines Spiels auf seinen Einsatz wartet. Dieses Warten wird zum filmischen Ereignis. Grassmann wird, noch so eine schöne Vokabel, zum Rucksackproduzenten.
Dann, Ende der 1960er, Anfang der 1970er kehrt er zu seiner Passion des Kinomachens zurück. Wie aus einer Großgarage das Abaton wird, gerät ihm zu einem Kabinettstück der Schlitzohrigkeit. Sein Hamburg ist ein Ort der kurzen Wege. Er will das Publikum nach dem Filmgenuss nicht einfach ins Dunkel der Nacht entlassen, sondern eine Begegnungsstätte schaffen, in der diskutiert werden kann. (Einen Debattierclub gab es schon im Studio 1.) Die Gastronomie wird zu einem neuen Steckenpferd, womit sich der Kreis zur Gastfreundschaft schließt. Allerdings entwickelt auch das Kinoprogramm besagtes Klima..Das Kommerzkino ist sein erklärtes Feindbild, aber er ist kein Purist. Im Abaton beginnen lauter Programmkino-Perlen ihre Karriere, die ich später auch in der Kamera in Bielefeld entdecken konnte: „Harold and Maude“, die Marx Brothers und andere mehr. Er entdeckt „Der Garten der Finzi-Contini“ von De Sica wieder, der die versammelte Großpresse begeistert und niemand im Saal merkt, dass der 4. Akt fehlt. Werner Gassmanns Erinnerungen enden übrigens mit einer netten Weihnachtsgeschichte. Inzwischen habe ich entdeckt, dass er ein zweites Buch über Hamburg in der Nachkriegszeit geschrieben hat, „Eine Nacht im Tarantella“.Schöne Aussichten für 2025!.
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