Unvoreingenommen
Im April schreckte mich eine Schlagzeile in "Le Figaro" auf. Sie lautete: "Hayao Miyazaki macht sich Sorgen". Tatsächlich befürchtet der Meister des handgefertigten Animationsfilms, dass sein neuer Film in Japan herauskommt und niemand es merkt. Unvorstellbar, wo doch jeder seiner bisherigen Filme ein Ereignis war und in der Regel Zuschauerrekorde brach!
Toshio Suzuki, seine rechte Hand im Studio Ghibli, blickt derweil dem heutigen Kinostart von »Kimitachi wa Do Ikiru ka« (How do you live?) weit weniger sorgenvoll entgegen. Grund genug dazu hätte er jedoch, denn das Studio hat seit Miyazakis letzter Arbeit »Wie der Wind sich hebt« und »Die Legende der Prinzessin Kaguya« des Ghibli-Mitgründers Isao Takahata (siehe "Ein Formwandler" vom 8. 4. 2018) keinen Film mehr ins Kino gebracht. Beide liegen zehn Jahre zurück. Aber Miyazakis Produzent hat entschieden, »How do you live?« ohne Trailer, Fernsehwerbung und sonstige PR zu starten. Es existiert nur ein Plakatmotiv, das den Kopf eines Vogels zeigt und offenbar von Miyazaki selbst gezeichnet wurde. Über den Inhalt seines 12. und wohl letzten Langfilms ist nur bekannt, dass er auf dem gleichnamigen Initiationsroman von Genzaburo Yoshino beruht, der 1937 veröffentlicht wurde, inmitten einer Phase der stärksten Militarisierung Japans. Wie es heißt, hat ihn der Regisseur allerdings sehr frei adaptiert; dem englischsprachigen Wikipediaeintrag zufolge erzählt er gar eine eigenständige Geschichte.
Suzuki geht dennoch davon aus, dass es sich um den meist erwarteten Film des Jahres handelt. Ihm schwebt anscheinend eine Art Gegenzauber vor zur Strategie drakonischer Sichtbarkeit, auf die die Hollywoodstudios in diesem Sommer mehr denn je setzen. Die Welt sei schon übersättigt von Informationen und das Publikum habe ein „tiefes, latentes Bedürfnis“, auch einmal unvoreingenommen ins Kino zu gehen. Welches Privileg!
Beträchtliche Aufmerksamkeit zieht das Projekt allerdings schon auf sich, seit Miyazaki es vor sieben Jahren ankündigte, Das war allein schon deshalb eine gute Nachricht, weil der Regisseur damit offiziell seinen Ruhestand für beendet erklärte. Nach „Wie der Wind sich hebt“ hatte er seinen Rückzug aus dem Filmgeschäft angekündigt. Das war aber schon zwei Jahre später Makulatur, als er feststellte, dass sich sein Leben seither eigentlich kaum verändert hatte. Er ging einfach nur eine halbe Stunde später ins Studio und machte 30 Minuten früher Feierabend. In den Bürostunden kümmerte er sich um das Ghibli-Museum, beschäftigte sich mit einem Kurzfilm und las unzählige Bücher, um einen geeigneten Stoff zu finden. Seine Enkelkinder legten offenbar gar nicht so viel Wert darauf, mehr Zeit mit dem Großvater zu verbringen.
Der Filmtitel stellt ein Flair von philosophischer Tiefgründigkeit in Aussicht, das Miyazakis Kino nie scheute. Seine literarische Herkunft wiederum lässt ein eminent pazifistisches Plädoyer erwarten, das dem Kriegskind Miyazaki (er wurde 1941 geboren) am Herzen liegt. Für das Kino-Comeback des Regisseurs sowie des Studios (dessen Produktionen letzthin vornehmlich von Netflix ausgewertet wurden) setzt Suzuki mithin ganz auf die Marke. In den letzten zehn Jahre jedoch wurden Kassenrekorde von anderen aufgestellt. Eine Stegreifumfrage auf den Straßen von Tokio erbrachte in den letzten Wochen ein gemischtes Ergebnis. Nur eine/r von fünf Passanten im Kinogängeralter zwischen 20 und 50 hatte von »How do you live?« schon gehört. Einige der anderen wurden jedoch neugierig, als sie hörten, dass es sich um den neuen Miyazaki handelt. Nun muss der Film sich selbst helfen: ein Fall für Mundpropaganda. Das Risiko ist groß: Stell dir vor, es gibt einen Blockbuster und keiner geht hin.
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