Ungereimt

Nachdem seit Monaten, inzwischen fast seit Jahren nur seine Anwälte sprachen, hat Gérard Depardieu nun selbst das Wort ergriffen. In einem offenen Brief, den er in der letzten Woche an die Tageszeitung "Le Figaro" schickte, tut er endliche seine Wahrheit über die Vorwürfe kund, die gegen ihn wegen zweifacher Vergewaltigung und sexueller Belästigung in mehreren Fällen erhoben wurden. Er bricht sein Schweigen mit Wortgewalt.

Es muss nicht überraschen, dass er sämtliche Anschuldigungen abstreitet. "Jamais au grand jamais", nie und nimmer, habe er eine Frau missbraucht – das wäre gerade so, als würde er dem Bauch seiner Mutter Fußtritte versetzen. Überraschen muss auch nicht, dass er sich zum Opfer einer medialen Lynchkampagne erklärt. Verblüffen darf aber schon, dass er sich hierbei hinter den Rockschößen einer anderen Frau verbirgt: der Chansonsängerin Barbara, mit der er zu deren Lebzeiten eng befreundet war und deren Repertoire er seit vielen Jahren in ganz Frankreich singt. Nun dürfe er es nicht mehr; auch Barbara werde von den Boykottaufrufen getroffen. Das ist von haarsträubender, schamloser Rabulistik.

Depardieus Strategie mutet offensichtlich, ja banal in ihren Abwehrmanövern an. Aber ihre sprachliche Form intrigiert mich. Nicht nur, dass seine Verteidigung in einem sorgfältigen, gespreizten Duktus abgefasst ist. Schon für das obige "jamais au grand jamais" musste ich digitale Wörterbücher konsultieren. Auch danach lernte ich weiter von Depardieu hinzu, unwillentlich. Weit mehr erstaunt hat mich allerdings die Versform, die er gewählt hat: Sein Brief reimt sich nicht, ist aber trotzdem ein Gedicht. Die Prosa genügt ihm nicht. Es geniert mich, ihn zu zitieren, aber in eine Nachweispflicht habe ich mich nun eben doch gebracht. Also:

„Eine Frau ist ein erstes Mal zu mir gekommen, leichten Schrittes, stieg freiwillig zu meinem Schlafzimmer empor. Heute sagt sie, vergewaltigt worden zu sein.

Sie ist ein zweites Mal zurückgekehrt.

Es gab zwischen uns weder Zwang noch Gewalt noch Protest.

Sie wollte zusammen mit mir die Chansons von Barbara im Cirque d'hiver (ein Veranstaltungsort in Paris) singen. Ich sagte Nein zu ihr.

Sie hat Klage eingereicht.“
Depardieu, der in einem Haus ohne Bücher aufwuchs, dessen Vater ein Analphabet war und der die Schule mit 12 Jahren abbrach, hat ein langes, inniges Verhältnis zur Poesie. Im Schauspielunterricht fiel er erstmals auf, als er ein Gedicht von Jules Laforge rezitierte. Ein Kommilitone meinte, er habe den Sinn der Worte nicht verstanden, aber sie ungemein einfühlsam interpretiert und mit großem Vergnügen an der Sprache. Danach verschlang er lyrische Texte mit der ihm eigenen Maßlosigkeit. Seinen größten künstlerischen Erfolg feierte er im Kino viel, viel später als Cyrano de Bergerac, dem fechtenden Poeten. Die Alexandriner von Edmond Rostand gingen ihm zauberhaft leicht über die Lippen. Aber das alles waren die Verse von anderen. Hat er für seinen Brief einen Ghostwriter verpflichtet?

Das ist die nachrangige Frage. Die wichtigere betrifft sein Formbewusstsein. Die Poesie überbietet die Alltagssprache, sie zielt auf Höheres: eine Wahrheit, die nicht im Prosaischen zu finden ist. Darauf spekuliert Depardieu und erhebt sich so über die Vorwürfe. Seine Erwiderung mutet sanft an; die Poesie ist traditionell eine Domäne des Zartgefühls, der Fragilität. All das reklamiert der Beschuldigte für sich. Unglaublich.

 

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