Spätlese

Das Werk von Yasujiro Ozu hat der Westen erst vom Schluss her entdeckt: mit seinen Spätwerken. Man kann sie leicht verwechseln Sie handeln unweigerlich von häuslichen Konflikten im Milieu der japanischen Mittelklasse, führen meist eine Jahreszeit im Titel und sind mit den gleichen Hauptdarstellern besetzt, dem heroisch zuverlässigen Chishu Ryu als bekümmertem Vater und der berückenden Setsuko Hara als Tochter am Rande des heiratsfähigen Alters.

Am 13. Dezember jährt sich sein Geburtstag zum 120. und sein Todestag zum 60. Mal. Dieses Doppeljubiläum wird vielerorts gefeiert, in Berlin und Nürnberg lief bereits eine Filmreihe, die ab Anfang Dezember im Hamburger Metropolis gastiert. In Frankreich sind vier seiner frühen Arbeiten in restaurierten Fassungen als Reprisen herausgekommen; arte zeigt bis zum April in der Mediathek fast ein Dutzend seiner Filme.

Das japanische Kulturinstitut in Köln zäumt Ozus Werk nun von vorn auf. Am Freitag (17.11.) um 18:30 Uhr eröffnet es seine Retrospektive mit dem formidablen, noch stummen Gangsterfilm „Dragnet Girl“. Er stammt aus dem Jahr 1933; der Ton kam spät nach Japan. (https://co.jpf.go.jp/veranstaltungen/kalender/dragnet-girl/) Dieser Auftakt ist zudem erfreulich mit zwei Kollegen besetzt: Olaf Möller hält eine Einführung und Daniel Kothenschulte begleitet die Vorführung am Klavier. Ozus Stumm- und frühen Tonfilme wurden erst spät wiederentdeckt; sie verraten einen anderen Elan. Die Wahl der Genres mutet so unverhofft an wie der Stil. „Dragnet Girl“ ist das letzte von drei Gangstermelodramen, die von der Verlockung des Guten handeln. Man könnte meinen, er habe damals nicht bei der Shochiku, sondern bei Warner Brothers unter Vertrag gestanden. Ozu muss „Underworld“, „Little Cesar“ und „Scarface“ genau studiert haben. Seine Gangster sind mitnichten Yakuza, auch Kostüme, Dekors und Requisiten sind betont unjapanisch gehalten. Nur die Sitten wurden nicht importiert.

Erzählerisch ist „Dragnet Girl“ ein Wechselbalg. Er fängt fast als Bürokomödie an, taucht dann ein ins Milieu von Kleinganoven und Boxern, um schließlich in ein Eifersuchtsmelo zu münden, bei dem Tradition und Verwestlichung gegeneinander stehen. Kinuyo Tanaka hält dieses Schillern in der ungewohnten Rolle des Gangsterliebchens prächtig zusammen. Ein ästhetisches Vergnügen bereitet der Film, weil er einen Regisseur in jugendlicher Experimentierfreude zeigt. Danach wird Ozu die Kamera nie mehr so zielstrebig und raumgreifend bewegen. Gleich werde ich über die Stillleben schreiben, die in seinen späteren Filmen Akzente setzen. Hier sind sie in eine staunenswerte Mobilität eingebunden. Bereits jetzt führt er Szenerien mit bezeichnenden Details ein. Aber die Requisiten gewinnen eine eigene Dynamik, wenn die Kamera flott an ihnen vorüber schwenkt.

Tatsächlich weist aber alles schon voraus. Das von seinen Nachkriegsfilmen bestimmte Ozu-Bild muss man nach der Begegenung mit seinem Frühwerk nicht grundlegend revidieren. Zu Beginn seiner Regiekarriere feierte er mit Studentenkomödien großen Erfolg (er nannte Lubitsch als einen seiner Meister) und seitdem zieht sich ein Unterstrom mitunter derber Komik durch das Werk des trinkfesten Regisseurs. Rasch findet er sein Genre, das shomin-geki (Geschichten über den freud- und sorgenvollen Alltag der kleinen Angestellten und Handwerker) und sein zentrales Thema: den Zerfall der Familie, das Auseinandertreiben der Generationen.

Ozu ist der Filmemacher der Permanenz, der nicht umhin kann, von Wandel und Vergänglichkeit zu erzählen. Das Abschiednehmen ist die grundlegende Erfahrung seiner Figuren. Wann wurde im Kino je die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit diskreter und trauriger ausformuliert als in jenem Augenblick aus „Tokyo Monogatari“ (Reise nach Tokio, 1953), als die Großmutter ihren Enkel betrachtet und sich fragt: „Wo werde ich sein, wenn du einmal Arzt bist?“ Mit einem Lächeln und im Tonfall höflichen Bedauerns wird die letztlich grausame Einrichtung der Welt erwogen, in feinsten Schattierungen vermag Ozu Verbitterung und Resignation voneinander zu scheiden. Ein wehmütiges Einverständnis mit dem Leben herrscht in seinem Kino. Ich bin gespannt, zu welch anderem Ergebnis die arte-Dokumentation mit dem Titel „Der Filmemacher des Glücks“ wohl gelangen mag.

Die Genauigkeit seiner Stillleben der familiären Umbrüche verdankt sich nicht zuletzt der Perspektive, die er wählt. Die Kamera befindet sich in der Regel drei Fuß über dem Boden, auf Augenhöhe eines Sitzenden. Jeder andere Blickwinkel auf das japanische Leben scheint ihm absurd und ungebührlich. Er gewährt dem Betrachter das zweifache Privileg von Entspannung und Konzentration. Mit den Jahren hat Ozu allen künstlerischen Zierat aus seinen Bildern verbannt. Er setzt selten Überblendungen ein; der Einführung von Ton, Farbe und Breitwand hat er lange widerstanden. Die durch Türen, Flure und Fenster segmentierten die Einstellungen – kaum je gibt es Diagonalen – und betten die Figuren in ihren gesellschaftlichen Rahmen ein. Die Kamera ist gleichsam lautlos geworden. Dabei haben seine Bilder an Mehrdeutigkeit gewonnen, sie scheinen offen bis in die Unendlichkeit.

Dieser Meister der Aussparung schneidet diskret von den dramatischen, intimen Höhepunkten seiner Geschichten fort, denn ihn interessieren die Gefühlsbewegungen vor und nach einer Entscheidung. Das Gewicht der menschlichen Existenz weiß er in den kleinen, flüchtigen Gesten des Alltags aufgehoben: Yasujiro Ozus Kunst entfaltet sich im Wechselspiel von Gleichförmigkeit und Variation, die Nuance ist das Unterpfand ihrer Lebensnähe. Man kann sich augenblicklich zurechtfinden in den Erzählkonstellationen und darf vertrauten Figuren wieder begegnen. Mit der Zeit versetzen Ozus Filme die Zuschauer in einen solch meditativen Rausch, dass man sogar gebannt der Richtung folgt, in welche der Wind den Rauch aus Schornsteinen treibt.

 

 

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