Glühende Neugier
Irgendwann, es wird mehr als ein Jahrzehnt her sein, gewöhnte er sich an, auf Begrüßungen zu verzichten. Er kam unverzüglich zur Sache. Das war keine Frage der Unhöflichkeit – wenn er wollte, konnten seine Manieren formvollendet sein - , sondern der Ökonomie. Michel Ciment hasste es, Zeit zu vergeuden.
Wenn er also auf einem Festival oder bei anderer Gelegenheit einen Bekannten in der Menge erspähte, ging er entschlossen auf ihn zu. Das Funkeln in seinen Augen genügte als Gruß. Insgeheim schwang dabei die Übereinkunft mit, dass es ein Privileg war, von ihm wahrgenommen zu werden. Michel suchte Verbündete, er verfolgte immer eine Mission. Sein Mitteilungsbedürfnis, zumal nach einer Pressevorführung, war groß. Er war ein meinungsstarker Kritiker und bildete sich sein Urteil schneller als andere. Die Konkurrenz schlief ja nicht.
Auf die Nachricht seines Todes im Alter von 85 Jahren hätte ich vorbereitet sein können. Aber wann gelingt einem das schon? Unser gemeinsamer Freund Binh hatte die Autoren von "Positif" bereits vor einigen Wochen darüber informiert, dass Michel mit einem Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus eingeliefert worden war, wo festgestellt wurde, dass er an COVID erkrankt war. Gerade war er noch als Ehrengast zum Festival Lumière in Lyon eingeladen worden - und hatte teilgenommen. Unter den ersten Mails, die heute bei der Zeitschrift eintrafen, waren Kondolenzschreiben von Arnaud Desplechin. Patrice Leconte, Atom Egoyan, Stephen Frears und Wong kar-Wai.
Als ich im Oktober Binhs Nachricht erhielt, hatte ich gerade zufällig einen alten Text von Michel gelesen, auf den ich beim Durchstöbern alter Ausgaben von „American Film“ gestoßen war. Im Dezember 1984 veröffentlichte er dort eine Bilanz von 25 Jahren Nouvelle Vague, die sehr gemischt ausfiel. Die Bewegung war schließlich aus dem Schoß der "Cahiers du cinéma" gekrochen, in denen er, nicht zuletzt als ein Mann der Linken, ein unerschütterliches Feindbild gefunden hatte. Ein ausgewogenes Urteil war von dem Text mithin nicht zu erwarten, ein vielschichtiges, gründliches und beziehungsreiches hingegen schon. Michels Angriffslust war stets in eine elegante Form gegossen: gelenkig und espritvoll. Er wusste gedankenschnell und hintergründig zu argumentieren. Die Redaktion von "American Film" brauchte keine Übersetzer für Michels Artikel (seither habe ich weitere gelesen, etwa über Francesco Rosi), denn er unterrichtete an der Sorbonne Amerikanistik und beherrschte die Sprache, mit der viele seiner französischen Kollegen noch immer hadern.
Mit ihm ist der Doyen der französischen Filmkritik gestorben. Für Klischees hatte er wenig Toleranz, aber einige bewahrheiten sich anlässlich seines Todes dann doch. Mit ihm vollzieht sich einen Generationenwechsel. Eine Karriere wie seine wird es nicht wieder geben – nicht nur, weil sich der Beruf, den er mehr als sechs Jahrzehnte lang ausübte, enorm gewandelt und radikal veränderte mediale Rahmenbedingungen zu gewärtigen hat. Michel konnte sie nicht ignorieren, blieb aber eine Figur der Kontinuität. "Positif", die Zeitschrift, über deren Geschicke er gut ein halbes Jahrhundert und mehrere Verlagswechsel hinweg als Primus inter pares entschied, existiert noch immer wacker in Papierform – auf der Website ist nur der Inhalt der Ausgaben zu finden, sie ist kein Organ der Online-Publikation, einmal abgesehen vom Editorial, das Michel gern nutzte, um sich wachsam und kämpferisch in (film-)politische Debatten einzumischen. Manche Schlachten müssen eben nach wie vor ausgetragen werden, aber neue kommen auch hinzu.
In den letzten 50 Jahren war er nicht die lauteste Stimme in der französischen Kritik, aber die vernehmlichste. Er fand viele Foren dafür, beispielsweise in den zahllosen Festivaljuries, in denen er saß, aber besonders als Mitglied der Kritikerrunde der legendären Radiosendung "Le masque et la plume". Zu den Berlinale-Ausgaben seiner eigenen Sendung "Projection privée" lud er mich zwei Jahrzehnte lang regelmäßig ein. Auf meinen Vorschlag, doch einmal eine andere deutsche Stimme in diese Runde aufzunehmen, ging er nicht ein. Das war unklug von ihm, machte mich aber stolz. Bestimmt fuchste es ihn, wenn ich kritische Anmerkungen zu dem aktuellen Film eines seiner Favoriten machte, beispielsweise Theo Angelopoulos. Als Moderator ging er dann geflissentlich über derlei Einsprüche hinweg. Dass ich seinen Hausgott Stanley Kubrick überschätzt fand, stand stets zwischen uns.
Ich glaube, zum ersten Mal begegnete mir sein Name im Abspann der Fernsehdokumentation »Billy Wilder – 60 % perfekt«, die er zusammen mit Annie Tresgot gestaltete und die an einem Montagabend spät in der ARD lief. Seine Interviewbücher mit Elia Kazan und Joseph Losey erschienen früh in englischer Übersetzung, sein Band über Kubrick sogar in deutscher. Seine Bücher über John Boorman und Rosi entdeckte ich dann auf Französisch (letzteres empfahl er mir vor ein paar Jahren in der italienischen Ausgabe, die er für die beste hielt); besonders schätzte ich seine Monographie über Jerry Schatzberg. Meine erste professionelle Begegnung mit Michel fand auf der Berlinale 1986 oder 1987 statt, allerdings noch nicht in Persona. Damals war ich noch Student und unternahm meine ersten Schritte im Filmjournalismus. Mein Freund Lars-Olav Beier und ich warteten in einer Runde, um Sydney Pollack zu »Jenseits von Afrika« zu interviewen. (Wir kamen uns ein wenig wie Hochstapler vor.) Irgendwann während der Wartezeit klingelte das Telefon und eine schwedische Kollegin nahm beherzt den Hörer ab. "It's Michel Ciment", klärte sie uns auf, "he sounds impatient and angry."
So etwas vergisst man nicht. Und tatsächlich lernte ich ihn später als Jemanden kennen, der nicht gern wartete. Er strahlte eine Autorität aus, die mir als natürlich erschien, die er sich tatsächlich aber in langen Jahren erstritten hatte. Ein Kritikerpapst wie er wusste, was ihm zustand. Eine Eigenschaft, die ich von ihm hätte lernen können (dessen Notwendigkeit ich naiverweise aber nicht begriff), war Machtbewusstsein. Michel wollte Einfluss ausüben und war in der Position, dies zu tun. Während einer Berlinale berichtete er mir, wie die französischen Kritiker geschlossen Druck auf den Produzenten Paulo Branco ausübten, damit er "Klimt" in der Schnittfassung von Raul Ruiz herausbrachte. Er war enttäuscht, dass wir in Deutschland keine Anstalten dazu unternahmen und uns mit der Kurzfassung abfanden. (Ein sachter Vorstoß meinerseits beim Verleih in Tübingen war fruchtlos geblieben.)
Es gab genug anderes, das man von ihm lernen konnte. Er besaß ein enzyklopädisches Wissen. Die Klarheit, mit der er seine Positionen vertrat, beeindruckte mich. Er besaß einen feinen, zuweilen beißenden Humor. Seine Schaulst war unermüdlich, er musste immer auf dem Laufenden sein. Das Kino mochte er ohne die anderen Künste nicht denken, stets fand er während seiner Berinalebesuche noch Zeit, um in Opern, Konzerte oder Ausstellungen zu gehen. Auch seine unumwundene Art schätzte ich. Auf einer Berlinale moderierte er ein Gespräch mit Francesco Rosi, dem die Hommage gewidmet war. Wir sind keine Heuchler, eröffnete er das Gespräch, wir kennen uns seit Jahrzehnten und werden uns deshalb nicht siezen. Wie viele der großen Vermittler innerhalb der französischen Cinéphile gebrach es ihm an falscher Bescheidenheit. Das erschien mir lässlich, denn er stand mit seiner Vita für Filmbegeisterung ein. Diese war auch privat bewegt. Den Selbstmord seiner ersten Ehefrau verwandt er schwer. Ich vermute, es half ihm, dass seine Neugier so robust war. Einer, der so glühend wie er für Filme stritt, kommt nicht ohne eine elementare Zuversicht aus. Und es war eine Lebensaufgabe sicherzustellen, dass "Positf" Weltgeltung behielt.
Mit der Zeit hatte ich den Eindruck, dass sein Blick auf Filme gewährender wurde, was keineswegs Altersmilde bedeutete. Das zeigte sich oft ganz unfranzösisch, wenn er etwa formale Bedenken zurückstellte, um anzuerkennen, dass ein Thema wichtig (im Fall von »Mr. Jones«, Agniezka Hollands Film über den Holodomor) oder originell (etwa bei "Genius", das Biopic über den amerikanischen Lektor Maxwell Perkins) gewählt war. Dieser Blick, so schien mir, wurde auch zusehends persönlicher. Einmal erzählte er, über seine jüdische Herkunft habe er sich erstmals wirklich Gedanken gemacht, nachdem er „Ein Geheimnis“ gesehen hatte, Claude Millers Verfilmung des Romans von Philippe Grimbert. Das gesellschaftliche Klima Frankreichs verdüsterte sich in Michels Augen seit Jahren zusehends; ich fürchte, den entsetzlich aufflammenden Antisemitismus nach dem 7. Oktober hat dieser wache Geist noch mitbekommen.
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