Das Irrenhaus, das unser Zuhause war

Auf dem Zusammentreffen der Familie, das Marco Bellocchio in Piacenza organisiert hat, ist die Legende seines Zwillingsbruders noch intakt. Ein Neffe des Filmemachers ergreift das Wort, bedankt sich für die Einladung und drückt ihrer aller Freude darüber aus, dass sie beisammen sind. Einer fehlt in der Runde.

Der Neffe war zu jung, um Camillo noch kennenzulernen. Aber er wurde ihm lebhaft beschrieben: als Frohnatur, als Optimist, der immer für einen Scherz zu haben war, als ein Engel, der ein Strahlen in die Familie brachte. Die Erzähltstimme des Regisseurs greift seine Worte auf: "Camillo, l' angelo" ist der Grund, weshalb er die Familie zu dieser Feier geladen hat und er ist das Thema seines Films. »Marx può aspettare«, Marx kann warten (der internationale Titel lautet »Marx can wait«) handelt von dem blinden Fleck in dieser Familiengeschichte. 2021 lief sein Dokumentarfilm in Cannes. Nun ist er im Rahmen der Hommage zu sehen, die ihm das "Italian Film Festival Berlin" widmet. Ab heute (3. 12.) zeigen ihn vier Filmtheater mit einer je eigenen intimen Atmosphäre, zuerst das Il Kino, dann das Ladenkino, das Filmkunst 66 und schließlich das Bundesplatz-Kino. Für mich ist es einer der Höhepunkte des Filmjahres.

Nicht nur, weil er einen schönen Gegenklang zu Bellocchios aktuellem Spielfilm »Die Bologna-Entführung« bildet, in dem es ebenfalls um die Verheerungen des Katholizismus` in einer Familie geht. Er wirft ein erhellendes Licht auf frühere Arbeiten des Regisseurs, »Mit der Faust in der Tasche«, »Der Sprung ins Leere«, »Die Augen, der Mund« und »Das Lächeln meiner Mutter«, aus denen er zuerst diskret und dann immer pointierter zitiert. Wie bedeutsam, schön und traurig er ist, erschließt sich auch über Bellocchios Werk hinaus. Camillo war der Benjamin der Familie, kam nach seinem Zwilling zur Welt, als ein Säugling, der so fragil wirkte, dass er auf Geheiß der Mutter zweimal notgetauft wurde und zum dritten Mal dann offiziell und hoffnungsvoll.

Marco und Camillo wurden in den Weltkrieg hineingeboren und in Gottesfurcht erzogen. Die Geschichte der Familie verbindet sich mit der nationalen. Das Referendum vom 2. Juni 1946, berichtet Bellocchio im Off, war eine Niederlage für den Clan: Die Mutter und die älteren Schwestern stimmten für die Monarchie, nur der Vater befürwortete die Republik. Der, ein Rechtsanwalt, entwickelt später anti-klerikale Neigungen. Aber die Mutter besteht darauf, dass er die letzte Ölung erhält, bevor er seinen Krebstod erleidet. Sie will um jeden Preis verhindern, dass er in die Hölle kommt. Sie ist besessen vom Höllenfeuer, die Kinder müssen ein regelrechtes Theater aufführen für sie. Früh stellt Bellocchio fest, das ihr Heim ein Irrenhaus war. Camillo spielt darin die Rolle des empfindsamen, oft ausgelassenen Außenseiters. Er vergeigt alle Prüfungen, geht zum Militär, wo er Zuflucht sucht und eine andere Hölle erlebt. Das Examen zum Sportlehrer schafft er schließlich doch. Die Mutter ist stolz auf ihre erfolgreichen Kinder, nur Camillo und die taube Schwester Laetizia scheren aus dieser Bilanz aus. Er bewährt sich allerdings als Lehrer. In der großartigen Schlusseinstellung (ebenfalls diskret und ungeheuer berührend) läuft ein Schüler an Bellocchio vorbei, dessen Pullover das Emblem seiner Schule ziert.

Bis zu Ende legt Marco einen weiten Weg der Selbstbefragung und der Auseinandersetzung mit seinen Geschwistern zurück. Nicht nur sie befragt er, um Camillo zu ergründen, auch die Schwester von dessen Freundin interviewt er sowie zwei gewissermaßen externe Experten: einen Psychoanalytiker und einen Jesuitenpriester, die Einleuchtendes über seine Familie und auch seine Filme zu sagen haben. Er selbst steht seinen Kindern Rede und Antwort, Elena (über die er bereits einen Dokumentarfilm gedreht hat) und Piergiorgio (der häufig als Darsteller in seinen Filmen auftritt). War Camillo eifersüchtig auf den Erfolg, den Marco schon früh als Filmemacher feiert? Er wäre wohl selbst gern ins Filmgeschäft gegangen – aber als was, als Schauspieler? Gut genug sah er aus.

Mit den Studentenunruhen in Turin werden die Zwillingsbrüder politisiert. Marco will kein bürgerlicher Filmemacher mehr sein und Camillo sagt den Satz, der dem Dokumentarfilm seinen Titel gibt und den der Bruder in einem Film verwendet. 1968 wird ohnehin ihr Schicksalsjahr. Der Sänger Luigi Tenco begeht Selbstmord, als er sich auf dem Schlagerfestival von San Remo um den verdienten Hauptpreis betrogen fühlt. Dieser Suizid nimmt Camillo mit. Er erhängt sich am 26. Dezember. Laetizia, das erzählt eine Schwägerin, ist in diesem Moment beherzt genug, das Seil abzuschneiden und den Leichnam herunter zu lassen. Die Schwägerin umarmt ihn, als sei es ihr eigener Bruder. Er hat eine Nachricht hinterlassen, deren Verschwinden und Inhalt nachträglich aufgeklärt werden müssen.

Die Art, wie die Geschwister miteinander umgehen, ist erstaunlich. Niemand macht den anderen Vorwürfe, allenfalls sich selbst. Vor der Kamera werden sie zu einer Trauergemeinschaft, die das Verdrängte aufarbeiten will. Es liegt große Würde darin, wie sie sich der Verantwortung stellen. Sie alle haben ein genaues Bewusstsein davon, wie sehr sie sich voneinander unterscheiden. Der Film respektiert das, gibt ihnen eine je eigene Kontur. Laetizia möchte heute noch daran glauben, dass es ein Unfall war. Marcos Schuldgefühl beruht auf dem Gefühl, er habe seinen Bruder nicht genug liebte. Das versteht man auch, wenn man nicht in einem Irrenhaus aufgewachsen ist.

Der Jesuitenpater sagt zu ihm, in seinen Filmen habe er gezeigt, was verborgen war. Sie seien zu einer Medizin geworden, die seine Wunden heilt. Ganz so einfach geht das nicht auf in »Marx kann warten«. Eingangs, als Bellocchio seine Geschwister auf der Feier vorstellt, überblendet er ihre jetzige Erscheinung mit Bildern aus der Kindheit. Am Ende wiederholt er dieses Verfahren unter anderen Vorzeichen. Nun ist das Gegeneinander von Einst und Jetzt auf die Zwillinge konzentriert: auf ihn und Camillo, der nicht älter werden konnte.

 

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