Eine Lebenserzählung
Wie nur gelangte das T-Shirt mit dem Rambo-Konterfei ausgerechnet 1989 in ein Kinderheim in Kabul? Im Jahr davor hatte er in seinem dritten Kinoabenteuer die Sowjet-Truppen in Afghanistan schließlich noch mächtig aufgemischt. Der Junge aber trägt es stolz. Schau mal, sagt er zu seinem Kameraden, ich sehe genauso aus wie er!
Gewiss, die Saga mit Sylvester Stallone ist ein nachrangiges Faszinosum in „Kabul Kinderheim“ von Shahrbanoo Sadat. Die eigentliche Kinobegeisterung der Figuren entzündet sich an Bollywood-Filmen. Schon das Gedränge an den Kinokassen ist enorm und unbeherrschbar. Im Saal selbst geht das männliche Publikum inbrünstig mit, tanzt verzückt zu den Melodien. Es erkennt sich wieder im Überschwang des Melodrams, weiß die eigene Sehnsucht dort zauberisch aufgehoben - allen voran der junge Qodrat, kaum 15jährig, aber schon umtriebig in seinem Geschäftssinn und seiner Vorstellungskraft. Aber beiden Kinomythen, Rambo wie Bollywood, ist die Kraft der Subversion inne.
Gestern ist Sadats Film in unseren Kinos gestartet. Es verbindet sich viel mit dieser Geschichte aus Afghanistan, Historie und brennende Aktualität. Es ist schade, dass ich die Chance nicht wahrnehmen konnte, die Regisseurin zu interviewen. Zu dem Termin war ich nicht in Berlin. Die verpasste Gelegenheit bedaure ich aus mehreren Gründen. Zum einen hatte mich ihr vorangegangener Film „Wolf and Sheep“ vor drei Jahren stark beeindruckt (allerdings habe ich in meiner Kritik für epdFilm ihren Vornamen seinerzeit konsequent falsch geschrieben, wofür ich nachträglich um Entschuldigung bitte). Überdies war einige Wochen zuvor auf einen Artikel in der französischen Tageszeitung „Libération“ gestoßen, in dem mehrere afghanische KünstlerInnen als Zeugen der aktuellen Ereignisse in Kabul befragt wurden. Sadats Zeugnis war ungemein eindringlich. Sie sei in letzter Minute von der französischen Armee ausgeflogen worden – beide Filme liefen in Cannes in der Quintaine des Réalisateurs“ - und habe in Kabul nicht nur viele Familienmitglieder, Freunde sowie ihren Zweitjob (in einem Café) zurückgelassen, sondern vor allem ihr Herz. Den Schlüssel zu ihrer Wohnung aber trage sie nach wie vor in ihrer Tasche, sagt sie in dem Interview, denn die Taliban könnten das Land nicht für alle Zeiten beherrschen. Ich musste bei ihren letzten Worten an die alte Historikerweisheit denken, seit Alexander dem Großen sei es keiner fremden Macht gelungen, Afghanistan zu erobern. Und insgeheim auch an die Kipling-Verfilmung „Der Mann, der König sein wollte“, wo Sean Connery und Michael Caine sich das mythische Kafiristan unterwerfen wollen.
Über Sadats bewegte Lebensumstände war in den letzten Tagen viel in hiesigen Feuilletons zu erfahren. Befragen Sie Ihre Suchmaschine, sie werden Spannendes und Wichtiges erfahren. Derzeit wohnt sie in Hamburg. Norddeutschland ist ihr nicht fremd – einige Szenen von „Kabul Kinderheim“, gar eine der Bollywood-Traumsequenzen, wurden in Schleswig-Holstein gedreht. Der deutschsprachige Wikipedia-Eintrag stellt Shahrbanoo Sadat als Regisseurin, Drehbuchautorin und Frauenrechtlerin vor. In diesen drei Funktionen würde sie nun dringend gebraucht in ihrer Heimat, aber in keiner ist sie den Taliban willkommen. Zumal gegen Ende ihres neuen Films eine mulmige historische Überblendung stattfindet. Er spielt 1989, als noch ein pro-sowjetisches Regime herrscht. Dann übernehmen die Mudschaheddin die Macht und aus der Republik wird ein islamischer Staat. Die Lehrerinnen tragen unversehens Kopftücher. Alles, was im Kinderheim noch an die sowjetische Volksbildung erinnert, muss umgehend vernichtet werden. Die Kinder wohnen der Akten- und Bücherverbrennung bei. Ihre bisherige Erziehung schildert der Film als ein durchaus gedeihliches Oktroy; einen der Jungen schmerzt es zutiefst, dass er sich nicht mehr von der Russischlehrerin verabschieden konnte.
Sadats neuer Film knüpft mittelbar an „Wolf and Sheep“ an, zahlreiche Rollennamen und Laiendarsteller tauchen erneut auf. Beide beruhen auf den unveröffentlichten Tagebüchern von Sadats Freund Anwar Hashimi, der auch als Regieassistent sowie Szenen- und Kostümbildnern fungiert und hier die tragende Rolle des Aufsehers im Heim sehr einnehmend spielt. Die Adaption seiner Tagebuchaufzeichnungen soll sich, das ist zumindest ihr Plan, auf insgesamt fünf Filme erstrecken. Dieses Projekt der filmischen Lebenserzählung eines Nahestehenden ist einzigartig, allenfalls vergleichbar mit „Jaquot de Nantes“, wo Agnès Varda die Kindheitserinnerungen ihres Mannes Jacques Demy aufleben lässt.
Die Ahnung des Erlebten trägt den Film; auch ohne Kenntnis des Hintergrunds. Zwar ist Qodrat, der anfangs Kinokarten zu horrenden Preisen weiterverkauft, so etwas wie die nominelle Hauptfigur. Aber die Erzählung ist vielstimmig. Es sind je eigene Wege, die die Jungen ins Heim führten. Aber dort erfahren sie auch Gemeinschaft, schließen ursprüngliche, zärtliche Freundschaften. Im Heim geriert sich ein Platzhirsch (der selbsternannte Rambo-Epigone des Auftakts), der kriminelle Strukturen und soziale Hierarchien etablieren will. Die Jungen um Qodrat merken, dass es auch ohne ihn geht. Sie machen spielerische Entdeckungen (ein havarierter Panzer spielt eine kuriose, zuletzt fatale Rolle), verspüren ein erstes erotisches Begehren, aber alles darf noch sacht und absichtslos bleiben, unschuldig fast, zumindest aber ohne prosaische Zielstrebigkeit.
Dem Film eignet ein Flair des Dokumentarischen, aber er beharrt auf dem Gegengewicht der Fantasie, des Traums. In „Wolf and Sheep“ waren es die Fabeln, in denen sich die Wirklichkeit verwandelte. Hier artikuliert sich die Ausflucht in der Bild- und Klangwelt Bollywoods. Sie ist ein Trost, ein hoffnungsvoller Spielraum, mitunter könnte man Qodrats Fantasien für Momente der Ermächtigung halten. Die Realität wird rabiater, aber Sadat verwehrt dem Publikum nicht die Option, Zutrauen zu schöpfen in den weiteren Werdegang einiger Jungen. Der erste Satz eines Diktates im Unterricht lautet: „Die Zukunft liegt in Kinderhänden.“ Drei Filme stehen noch aus. Es wäre schön, wenn Sadat ihr Vorhaben umsetzen könnte.
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