Ein Komet
»Er sieht aus wie der Butler in »Mord im Orientexpress«, finden Sie nicht auch?« fragt Catherine Deneuve in »La Vérité« den jungen Journalisten. Der hat sie bisher mit flauen, kenntnisfreien Fragen gequält, merkt immerhin aber, dass sie die alte Verfilmung meint. Der Mann, über den sie sprechen, hat tatsächlich große Ähnlichkeit mit Sir John Guielgud.
Das Interview ist ein kurioser Auftakt zu Hirokazu Kore-edas Film, der in dieser Woche anläuft. Deneuve spielt eine Diva, die ebenso begabt ist zu schnippischer, nonchalanter Unverblümtheit wie sie selbst. Es wirkt fast überheblich, wie gescheit und überlegt sie auf die unbeholfenen Fragen antwortet. Ihre amüsierte Abschätzigkeit ist allerdings eines der Probleme, um die es in »La Vérité« geht. An ihm könnte auch die Beziehung der Film-im-Filmlegende zu ihrem treu ergebenen Agenten Luc scheitern. Alain Libolt spielt ihn exquisit. Falls Sie nie von ihm gehört haben sollten, ist das nicht Ihre Schuld. Das Kino hat nur selten Verwendung für ihn gefunden. Dabei ist er ein schöner Mann. Er war es schon in seiner Jugend, und ist es jetzt erst recht, nun, wo seine Haare so schütter sind wie die seines britischen Kollegen und seine Augen ebenso wehmütig funkeln.
Als ich ihn zum ersten Mal bemerkte, war seine Stirn schon hoch, aber die elegant zurückgekämmten Haare glänzten noch schwarz. Das war im Oktober 1998, als Éric Rohmers »Herbstgeschichte« in die Kinos kam. Darin besitzt Libolt, als Partner von Marie Rivière und Béatrice Romand, ein Flair würdevoller, lebensgeprüfter Romantik. Er spielt eineneinen zurückhaltenden, aber gründlichen Genießer: Es geht ja viel um Rotwein in der »Herbstgeschichte«.Sein Blick ist aufmerksam und voller Wärme, aber besonders fielen mir seine vollen, weichen Lippen auf. Kommt es überhaupt zu einem Kuss in Rohmers Film? Ich erinnere mich nicht mehr genau, hoffe es aber sehr.
Gestern Abend fiel mir ein, dass die »Cahiers du cinéma« damals ein Porträt von ihm veröffentlichten. Bei der Suche im Regal entdeckte ich, dass sie den Frankreichstart von »Conte d'automne« sogar mit langen Strecken in gleich zwei Ausgaben feierten. Vive les Cahiers! Olivier Joyards Porträt des Schauspielers erschien im Oktober. In der Nummer davor sprach Rohmer im Interview über Libolt: Selten habe er ein solches Vergnügen bei der Zusammenarbeit mit einem männlichen Schauspieler empfunden. Sein Ausdruck sei stets ungemein interessant, beim Schnitt sei es schwer gewesen, auf viele schöne Augenblicke zu verzichten. Auch Rohmer wunderte sich, dass dieser Schauspieler nach viel versprechenden Anfängen dem Kino abhanden gekommen ist und vornehmlich im Fernsehen und auf dem Theater arbeitete. Drei Jahre später besetzte ihn Rohmer noch einmal in »Die Lady und der Herzog«; in seinem letzten Film »Astrée et Celadon« ist Libolts geschmeidige Stimme 2007 im Off-Kommentar zu hören.
In Joyards Artikel erfuhr ich, dass ich ihn schon aus Jean-Pierre Melvilles »Armee im Schatten« kennen konnte. Da spielt er das jüngste Mitglied einer Résistance-Zelle. Lino Ventura muss ihn liquidieren, nachdem er sie an die Deutschen verraten hat. Melville erklärte dem Debütanten damals, er spiele einen Engel, einen gefallenen Engel. Als einzige Regieanweisung gab er ihm auf, sich auf seine Bestrafung vorzubereiten. Im letzten Jahr, als ich mich mit Lino zu dessen 100. Geburtstag beschäftigte, sah ich die Szene noch einmal, sie raubt einem den Atem, und der junge Libolt spielt wirklich traurig engelsgleich. Im Interview mit Joyard spricht er ohne Verbitterung darüber, dass er das Rendezvous mit dem Kino verpasst hat. Er gehörte dem gleichen Kreis an wie Depardieu und Patrick Dewaere, hatte selbst keine Erklärung dafür, weshalb er im Kino dann nicht so fulminant wie sie Fuß fassen konnte. Ich habe Libolt nie in einer Hauptrolle gesehen. Fehlt ihm dazu der Ehrgeiz? Oder spürte er, dass seine Präsenz sich besser ohne diese Last entfalten könnte? Am Talent lag es nicht: »Il a un sense de cinéma extraordinaire«, fand Rahmer. Aber stattdessen spielte er Theater, Marivaux, Shakespeare und andere, und war glücklich damit, zumal er in Patrice Chéreau einen großen Freund und Regisseur fand. Damals malte ich mir aus, was wohl Alain Resnais mit einem solch vornehmen Schauspieler anfangen könnte!
Fein ist die Vokabel, die mir zuerst zu ihm einfällt, womit ich auch seine Züge und seine Gliedmaßen meine, in »La Vérité« kommt die Nachsilbe -sinn hinzu. Fabiennes Agent Luc hielt sich immer diskret im Hintergrund, lenkte sanft ihre Karriere und sprang als Diplomat ein, wenn ihr Temperament sie in Bedrouille brachte. Ihre Gleichgültigkeit ertrug er. In ihren Memoiren erwähnt ihn die Diva mit keiner Zeile. Jetzt ist seine Höflichkeit an ihre Grenzen gekommen, er kündigt von heute auf morgen. Er übergibt die Stafette der Fürsorge und Schadensbegrenzung an ihre Tochter Lumir (Binoche): ausgerechnet an sie, und einfach so, nur mit einem Fingerzeig auf sie. Fortan will er sich um seine sechs Enkelkinder kümmern, von denen Fabienne nie Notiz nahm. Hinreißend, wie Libolt sie an den Fingern aufzählt, ein Junge, ein Junge, ein Mädchen, ein Junge, nach ihrem Alter geordnet. Hoffentlich spürt sie in diesem Moment einen Anflug von Scham.
Er war der diskrete Sockel, auf dem ihre Existenz stand – viel mehr noch als ihre Ehemänner (einer taucht wie ein Geist wieder auf, gespielt von Roger van Hool: noch so untalentiert wie vor 50 Jahren). Insgeheim ist Libolts Figur auch der Sockel, auf dem Kore-edas Dramaturgie ruht. Lucs Demission löst die Krise aus. Nun ist die Familie auf sich gestellt. Lumir bemüht sich um eine Versöhnung, schreibt sogar eine eine entsprechende Szene für ihre Mutter, die sich nie bei einem Mann entschuldigt hat. Auf diese Entschuldigung wartet Luc nun in der Restaurantszene. Er ahnt, dass die Worte von Lumir stammen, aber einer wie er besteht darauf, dass auch die Form gewahrt wird.
Libolt legt eine sanfte Unerbittlichkeit in dieses Warten. Es ist eine Aufforderung zu Anstand und Empathie. Schön, wie er auf Lucs Stolz beharrt. Eigentlich eine Liebesszene. Fabienne will sich drücken. Wir hören die Entschuldigung nicht wirklich in diesem intimen Moment, wo die Zwei sich gegenüber sitzen. Vielmehr schneidet Kore-eda mit einem Taktgefühl, das Luc versehen würde, nach draußen auf die Straße. Wir sehen Deneuve durch die beschlagene Fensterscheibe dabei zu, wie sie in sich geht. Die Komödie kann noch gut ausgehen. Zum Abschied zeichnet Fabiennes Enkeltochter den Agenten mit einem gebastelten Orden aus. »Sir« hat sie darauf gemalt. Der schönste aller Filmpreise.
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