Die moralische Anstalt

Das war eine erfreuliche Jubiläumsfeier am gestrigen Sonntag: 50 Jahre „Tatort“, da hat sich die ARD mit der Folge von Dominik Graf und Bernd Lange ein echtes Geschenk gemacht. Fast könnte man meinen, die Senderfamilie wächst über sich hinaus.

Graf wird ja immer gern in Stellung gebracht, zumindest von bestimmten Teilen der TV- und Filmkritik, wenn sich das Fernsehen mal in kinohafte Sphären katapultiert. Zweifellos bringt er immer noch eine andere Vision ein. Das hat mich an dieser Stelle schon das ein und andere Mal beschäftigt. Und auch Langes Kunst, das übersieht man leicht bei dem Kult um den Regisseur, ist amphibienhaft: Er ist einer der besten Drehbuchautoren für Leinwand und Bildschirm. Die Kritiken, die ich gelesen habe, waren wohlwollend bis enthusiastisch. Beidem kann ich mich anschließen, wenngleich mir der Jubelschrei meines Kollegen Rüdiger Suchsland („Das ist kein Fernsehen. Das ist ein Film.“) entschieden zu weit geht. Es war hervorragendes Fernsehen, was man am Sonntagabend erleben konnte. Das ist entweder eine ziemliche Hypothek für die Fortsetzung in einer Woche und deren Regisseurin Pia Strietmann (was nicht unbedingt im Sinne des kollegialen Regisseurs Graf sein muss) oder eine wunderbare Steilvorlage.

Der Auftakt von „In der Familie“ war so unordentlich und rissig wie der von Sam Fullers „Tote Taube in der Beethovenstraße“. Ein „Tatort“ außer der Reihe sozusagen. Und im Blick auf Hierarchien und Bürokratie schön selbstreflexiv, wenn mehrmals vom „üblichen Handlungsspielraum“ die Rede ist. Die KommissarInnen nutzen den Apparat und scheren gegebenenfalls aus den Konventionen aus, nonchalant und offenen Auges. Im Gegensatz zu Faber, der notorisch rücksichtslos auf Risiko spielt, müssen Lange und Graf nichts bereuen.

Im Falle Grafs ist die Jubiläumsfolge gewissermaßen der Film zum Text. In der Novemberausgabe der Filmzeitschrift „ray“ hat er einen Essay zu 50 Jahren „Tatort“ veröffentlicht, der zum einen gesättigt ist mit seinen persönlichen Erfahrungen in diesem Format und zum anderen wunderbar impressionistisch auf dessen Konventionen und Ausreißer blickt. Wie entscheidend die zweite Silbe des Serientitels ist, arbeitet er triftig heraus. Und in „In der Familie“ setzt er den Drehort Dortmund wunderbar in Szene. Selbst die Straßenschilder spielen hier prächtig mit. Die bajuwarische Klage „Das ganze Land besteht aus Autobahnen!“, als Batic die Verfolgung des Drogenhändlers und Mörders aufgibt, erzählt von der föderalen Exotik und Fremdheit, aus der die Serie einen Gutteil ihres Reizes schöpft. Die Analogie zwischen Bundesliga und „Tatort“, die Graf in seinem Essay aufmacht, findet einen hübschen Widerhall in dem BVB-Kaffeebecher, den der Münchner Kommissar am Ende mit heim nimmt.

In seinem Text blendet er weit zurück, bis zu den Anfängen der Serie, der ursprünglichen Idee des WDR-Redakteurs Gunter Witte, die „Filmerzählung im TV damals voranzubringen. Um endlich wegzukommen vom Studio-Sprech-Spiel der Frühzeit“. Eben diese holt das Medium aber gerade wieder ein. Die Ausstrahlung von „In der Familie“ fällt in einem bemerkenswerten Kontext. Die großen (zumindest nach Ansicht der jeweiligen Sendeanstalten) TV-Ereignisse der letzten Tage kehren zur Form des Kammerspiels zurück, das sich eminent theatral an die klassischen Einheiten von Raum, Handlung und zum Teil auch Zeit hält: „Ökozid“, „Gott“ und „Das Verhör in der Nacht“. Da leben Studio, Sprechen und Spielen in oft erlesener Weise wieder auf. Die ersten Zwei sind (allerdings nicht durchweg konventionelle) Gerichtsdramen, der Titel des Dritten gibt einen ebenfalls eingehegten Erzählrahmen vor. Kinoluft atmen diese Sendungen vornehmlich durch ihr Personal: Bei „Ökozid“ führt Andres Veiel die Regie; bei „Gott“ tut dies Lars Kraume, die Kostüme hat Esther Walz entworfen und die Kamera Frank Griebe geführt; bei „Das Verhör in der Nacht“ schafft Judith Kaufmanns Lichtführung die unverzichtbare Atmosphäre. Vor der Kamera agieren lauter exzellente Darsteller, die im Fernsehen oft und auf der Leinwand viel zu selten zu sehen sind: Barbara Auer, Nina Kunzendorf, Charly Hübner, Edgar Selge, Ulrich Tukur und viele mehr.

Alle Sendungen sind noch mehr oder weniger lange in den Mediatheken abrufbar. In diesen erzählerischen Tribunalen geht es jeweils um ein rhetorisches Kräftemessen. Sie beruhen nicht nur auf Bühnenvorlagen (von Daniel Kehlmann bzw. Ferdinand von Schirach), ihr Impuls ist bühnenhaft. Kehlman mag bei „Das Verhör in der Nacht“ zwar an das „Das Verhör“ von Michel Audiard und Claude Miller gedacht haben, mir hingegen kam zunächst „Ein Inspektor kommt“ von J.B. Priestley in den Sinn, heute zu altbacken, um Theaterregisseure noch herauszufordern, aber in der bundesdeutschen Nachkriegszeit ein Dauerbrenner, als man Schuld lieber allegorisch verhandelt sah. Von Schirach wiederum ist ein smarter Konstrukteur ethischer Dilemmata. Als Barbara Auer am Anfang von „Gott“ direkt in die Kamera blickt, ist das eine im Fernsehen verblüffend appellhafte Zuschaueradressierung. (Auch bei Graf und Lange spielt ein Blick in die Kamera eine entscheidende Rolle, die aber wirklich filmisch gedacht ist.) Die Überschrift der Kritik der „Frankfurter Rundschau“ zu „Gott“ („Heikles Thema perfekt besetzt“) bringt diese gewisse Tendenz im deutschen Fernsehen mit unfreiwilliger Komik auf den Punkt: Thesenfernsehen, das erst von deklamatorischer Kunst mit Leben erfüllt werden kann. Die Darsteller bei Kraume und Veiel nehmen es in heroischer Disziplin in Kauf, Sprachrohr eines gewichtigen Themas zu sein.

„Ökozid“ ist in jeder Hinsicht der interessanteste dieser drei Fernsehfilme. Er bringt das Medium tatsächlich voran, in dem er sich dessen Konventionen und Ikonografie bedient bzw neue hinzuerfindet. Das Drehbuch von Jutta Doberstein und Veiel imaginiert eine nahe Zukunft: Im 2034 klagt eine Koalition von 31 Staaten der südlichen Hemisphäre vor dem Internationalen Gerichtshof gegen die Bundesrepublik Deutschland, die ihre Klimaziele nicht erfüllt hat. Die Idee eines Nord-Süd-Gefälle-Tribunals hat einen filmischen Vorläufer: „Bamako“ von Abderrahmane Sissako, wo der afrikanische Kontinent einen Prozess gegen die Weltbank und den Internationalen Währungsfond anstrengt. Doberstein und Veiel blicken voraus, in eine Zeit mit sacht neuen Kommunikationstechniken und einem inzwischen ergrauten Ingo Zamperoni, der noch immer die „Tagesthemen“ moderiert. Eine Dystopie mit Humor: Angela Merkel tritt als Angeklagte auf, die ansonsten die Meldungen auf ihrem Handy verfolgt, wie wir es aus Bundestagsdebatten kennen; ihr Amtsvorgänger Gerhard Schröder entzieht sich der Vorladung mithilfe eines ärztlichen Attestes aus der Russischen Föderation. Dieser milde satirische Mehrwert gemahnt daran, dass das Drehbuch natürlich ganz und gar die Gegenwart meint. Die Klimakatastrophe von 2034 lässt sich hinreichend mit Nachrichtenbildern des Jetzt demonstrieren; aktuell muten selbstverständlich auch die Plexiglasscheiben im Gericht an, die den Hygienevorschriften während der Dreharbeiten geschuldet sind. Einmal gibt es einen schönen Effekt der Duplizität, als sich die Merkel-Darstellerin in einer Scheibe spiegelt. Die Gegenwart spielt mit. Man spürt, dass sich Veiel, auch wenn er sich inzwischen verstärkt der Fiktion zuwendet, den Instinkt des Dokumentarfilmers bewahrt hat. Auch das ist eine amphibische Kunst.

 

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