In der Dunkelkammer
Den letzten Film, den ich im Kino sah, hatten wir klug gewählt. »Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão« passte ideal zum Internationalen Frauentag am 8. März. An dem Wochenende gab es noch ein reiches Angebot in Berliner Kinos. Es herrschte auch noch das Glück der Gleichzeitigkeit, man konnte Filme nachholen, die schon vor ein paar Monaten herausgekommen waren.
Nun habe ich zum ersten Mal wieder einen Neustart miterlebt – allerdings nicht in einem der Kinos, in denen »Kopfplatzen« eigentlich am 2. April hätte anlaufen sollen. Der Verleih Salzgeber, der auch Teile seiner Backlist in seinem »Club« digital zugänglich macht, brachte ihn gestern pünktlich als VoD-Premiere heraus. Das ist die zweitbeste Lösung. Aus mehreren Gründen hätte ich mir für Savaş Ceviz' Drama über einen jungen Pädosexuellen (Max Riemelt) die erste gewünscht: Zum einen, weil ich das Unbehagen, das er bereitet, lieber mit anderen in einem Saal geteilt hätte; zum anderen weil er in dieser Vertriebsform voraussichtlich nicht die angemessene öffentliche Wahrnehmung erfährt. Vielleicht irre ich mich und er löst dennoch jene öffentliche Debatte aus, die sein Thema und seine Ästhetik herausfordern müssten. Welches Kinoleben aber könnte er noch nach der entsetzlichen Parenthese dieser Wochen haben?
Jedoch bewundere ich die Kreativität, mit welcher derzeit vor allem die Verleiher von Arthouse-Filmen auf die Krise reagieren. Grandfilm, Eksystent und andere stellen Teile ihres Katalogs digital zur Verfügung und teilen die Einnahmen solidarisch mit Kinos. Während die Nische zeitnahe Lösungen sucht und findet, haben die Majors noch keine Strategie entwickelt. Auch anderswo finden Neustarts im Netz statt. Die Kinokette »Alamo Draft House« (über deren innovativen und antizyklisch gedachten Unternehmungen ich am 31.12.2017 in »Der Angriff der übrigen Zeit« schrieb) hat gerade »Bacurau« von Kleber Mendonca Filho in den USA herausgebracht. Auf den Websites der regionalen Kinos kann er fünf Tage lang für den allerdings happigen Preis einer Kinokarte ausgeliehen werden. Wiederum teilen sich Verleih und Kinos die Einnahmen. Das brasilianische Filmteam steht zudem für ein Q&A zur Verfügung. Jetzt kommt auf diese Weise auch Ken Loach' »Sorry we missed you« heraus.
Die britischen Curzon-Kinos haben schon vor der Krise mit einem Video-on Demand-Angebot experimentiert. In der letzten Woche lancierten sie eine aktuelle Filmreihe mit »Systemsprenger«; auch dabei spielt die Kommunikation mit FilmemacherInnen eine attraktive Rolle. Selbst in Frankreich, wo die Chronologie der medialen Auswertung bisher ehernen Regeln folgte, findet gerade ein Umdenken statt. Der zuvor nicht durch nennenswerten gestalterischen Elan aufgefallene, inzwischen aber hoffentlich von seiner Corona-Infektion genesene Kulturminister Franck Riester hat sich mit dem Filmzentrum CNC darauf verständigt, Filme, deren kommerzielle Karriere brüsk nach dem 15. März endete, digital auswerten zu lassen. Auch Titel, die in den folgenden Wochen anstanden, sollen dem Publikum nun zugänglich sein.
Systemsprengungen allerorten: Die strikte Medienchronologie, die bisher in der Filmförderungsrepublik Deutschland gilt, wird momentan ebenfalls ausgehebelt. Normalerweise muss ein Film, der Fördergelder erhalten hat, ein Zeitfenster von sechs Monaten einhalten, bevor er in Heimmedien herauskommen darf. Im Fall von »Kopfplatzen« sind dies eine Drehbuchförderung der Bundesregierung sowie eine Produktionsförderung der Medien-und Filmgesellschaft Baden-Württemberg – was den Vorzug hat, dem Film einen relativ unverbrauchten Drehort (Karlsruhe) zu bescheren.
Riemelt spielt den Architekten Markus, der Kinder liebt, den Anblick ihrer Körper erregend findet. Er fotografiert sie im Schwimmbad und anderswo. Niemand, weder Familie noch Arbeitskollegen, ahnen, dass sein Alltag als Spaziergänger, Onkel und Nachbar ein einziger Spießrutenlauf ist. Nach jedem Anblick, zu Begegnungen kommt es vorerst nicht, masturbiert er. Als Jessica (Isabell Gerschke) in seinem Mietshaus einzieht, lernt er ihren Sohn Arthur kennen, den Oskar Netzel als lebhaft unbeschwertes Scheidungskind spielt. Jessica fühlt sich bald zu dem freundlichen, schüchternen Nachbarn hingezogen, der sich so prächtig mit ihrem Sohn versteht. Markus will sich in Behandlung begeben und findet einen achtsamen Analytiker (Ercan Durmaz), der ihm eröffnet, dass seine Neigung nicht heilbar ist, er aber Verantwortung für sein Handeln tragen kann.
Savaş Ceviz hat einen unerbittlichen Film gedreht. Seine Dramaturgie und Bildsprache bestehen auf Unausweichlichkeit. Ich mochte die Fensterblicke, die den furchtbaren Widerspruch zwischen Innen und Außen unterstreichen. Die Szenen in der Dunkelkammer, die im Kino gemeinhin ein Synonym für Entwicklung oder Erkenntnis sind, bringen zunächst den einzigen, wenngleich entsättigten Farbakzent in die chromatisch enge Herbstwelt des Films. Das Drehbuch ist besessen von der Pathologie seines Protagonisten. Er besucht einschlägige Websites, chattet in Foren (den Film am Laptop zu sehen, stellt da eine mulmigere Nähe als im Kino her); er reagiert sich beim Kickboxen ab und hält stumme Zwiesprache mit einem Wolf, der im Zoo eingesperrt ist.
»Kopfplatzen« erweitert den Kanon der Missbrauchsfilme um die Täterperspektive. Letzteres darf man zum Glück in Anführungsstriche setzen. Markus führt einen heroischen Kampf gegen eine Orientierung, für die er nichts kann. Die körperliche Nähe, die Arthur vertrauensvoll bei ihm sucht, nutzt er nicht aus. Markus' Hand hält Abstand, wenn sie über dessen Haare, Schultern und Arme streichen will. Ein Kontaktsperrenfilm.
Mit Max Riemelt hat der Regisseur eine hervorragende Wahl getroffen. Es sind 20 Jahren seit seinen Auftritten in den »Mädchen Mädchen«-Komödien vergangen, in dieser Zeitspanne liegen darstellerische Herausforderungen wie »Im Angesicht des Verbrechens«. Aber Riemelt hat sich für diese Rolle seine wachsame Verletzbarkeit erhalten. Es passt, dass er den ausgesprochen jungenhaften Namen Markus trägt. Man kann ihm noch so etwas wie Unschuld zutrauen. Das ist ein großes Wort, aber ein Schauspieler wie er muss es nicht fürchten. Endgültig gepackt hat mich die (allerdings dramaturgisch reichlich holprig eingefädelte) Szene, in der Jessica seine wahren Motive entdeckt. Ihre Reaktion ist vorhersehbar, aber sie bleibt einen Moment länger als erwartet im Raum und hört zu, als Markus ihr seine Seelenqualen offenbart. In einer solchen Erzählkonstellation werden selten dankbare Rollen für Frauen geschrieben (man denke nur an die selig ahnungslose Shelley Winters in »Lolita«). Jessica erfüllt ihre Funktion. Ich wünschte, Isabell Gerschke hätte mehr Augenblicke wie diesen gehabt, der für einen Sekundenbruchteil zögernd und offen ist.
Ich bin noch nicht fertig, aber mal wieder sehr lang geworden. Morgen werfe ich einen weiteren Blick in die Dunkelkammer.
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