Operation Overload
Als ich vor einer Woche in "Der Schrecken der Zahlen" über das kaum zu bewältigenden Aufgebot an Filmstarts schrieb, habe ich das Feld der Heimmedien bewusst ausgeklammert: Der Lernprozess, sich beim Schreiben auf das Wesentliche zu konzentrieren, hört ja nie auf.
Aber natürlich potenziert sich auf diesem Markt das Problem noch mal um ein Vielfaches. Wie ich am Wochenende in der SZ las, scheint Netflix auf die Frage, wie sich das alles konsumieren lässt, eine zukunftsweisende Antwort gefunden zu haben: Der Streamingdienst plant, Serien demnächst im anderthalbfachen Tempo abzuspielen. Sämtliche Staffeln von »House of Cards« beispielsweise würden dann nicht mehr 73 Stunden Lebenszeit, sondern nur noch 55 verschlingen. In der Branche sei mittlerweile von einem "Content Overload" die Rede, der das Publikum überfordere und übersättige. Keine Frage, der Plattform scheint das Zeitkontingent ihrer Abonnenten wirklich am Herzen zu liegen. Andererseits, hört man nicht auch immer häufiger deren Klage, sie hätten das Angebot leer geschaut?
Zur gleichen Zeit, das nimmt man erfreut zur Kenntnis, macht sich der Kinokiller übrigens um das Fortleben bedrohter Lichtspielhäuser verdient. Vor einiger Zeit war schon im Gespräch, dass Netflix das legendäre Grauman's Chinese Theatre als Abspielstätte eventueller Oscar-Kandidaten aus dem eigenen Portfolio erwerben könnte. Nun hat er das eigentlich im August geschlossene Traditionskino "Paris" für gemietet, das 1949 eröffnete und letzte Arthouse in New York, das mit einem einzigen Saal auskam. Der allerdings ist groß, umfasst 581 Sitze. Dort läuft momentan, rechtzeitig zum Beginn der Awards Season, Noah Baumbachs »Marriage Story«. Firmenchef Reed Hastings deutet an, dass er ein permanente Wiedereröffnung im Auge hat. Aber ich schweife ab, der oben beschworene Lernprozess ist eben längst nicht abgeschlossen.
Der SZ-Artikel über das in München veranstaltete Seriencamp hatte meine Neugier geweckt. Wie ich andernorts recherchierte, handelt es sich bei der der famosen Zeitsparfunktion allerdings weder um einen Mechanismus noch um einen Oktroy. Vielmehr will Netflix variable Wiedergabegeschwindigkeiten anbieten, vom halben Tempo (also fast Zeitlupe) stufenweise bis zum besagten anderthalbfachen. Eineinviertel ist mithin auch möglich, da merkt man angeblich kaum, dass die Geschwindigkeit anzieht. Zweifellos ein geeignetes Mittel, um dramaturgischen Leerlauf auszuhebeln. Dabei stand ich in dem Glauben, dieses angeblich Goldene Zeitalter des Serienkonsums ginge mit einer erholsamen Entschleunigung des Alltags einher, einem neu erwachten Interesse an übergreifenden Horizontalen, an großzügig gespannte Erzählbögen. Erinnern wir uns an den Beginn der Serienbegeisterung, da wurden Formate wie »The Wire« als das moderne Äquivalent des großen Gesellschaftsromans gefeiert. Aber diese Zuversicht könnte sich nun als weltfremd erweisen. Anscheinend bricht sich die kurzatmige Vertikale wiederum Bahn. Gleichviel, ob Diktat oder bloßes Angebot, was technisch möglich ist, wird auch gemacht.
Es kursieren Gerüchte, der Plattform sei bange geworden angesichts der dreieinhalb Stunden, die »The Irishman« dauert. Dass Scorsese mit einer solch frevelhaften Temposteigerung einverstanden ist, darf man bezweifeln. Ein Filmkünstler kann dergleichen nicht hinnehmen. Hoffen wir mal, dass er wasserdichte Verträge abgeschlossen hat. Der Name der Firma hätte eigentlich Warnung genug sein können. Denn mit der neuen Abspielfunktion löst er dessen zweite Silbe endlich ein. Die umgangssprachlichen "Flicks" wurden im Englischen fremdelnd "Flickers" genant, womit man schon einen Eindruck der Seherlebnisse bekommt, die den Abonnenten ins Haus stehen könnten. Ich muss da sofort an meine erste, unselige Begegnung mit Stummfilmen im Fernsehen denken, an die zappelnden »Väter der Klamotte«, wo die Vorführge-schwindigkeit von 16 oder 18 Bildern pro Sekunde auf 24 angezogen wurde. Die furchtbare, längst gnädig vergessene Vokabel der Flimmerkiste schickt sich dank Netflix an, unverhoffte Aktualität zu bekommen.
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