Geboren, um Lokomotiven zu lieben
Bist du nicht fröhlich? fragt Sisif seine Ziehtochter Norma am Ende, als sie sich endlich versöhnt haben und von ihrem ihrem Fenster aus einem Tanz, den die Bergler am Montblanc feiern. Nein, erwidert sie, ich bin glücklich, das ist etwas anderes, ein zarteres und traurigeres Gefühl. Welch schöner Ausklang für einen Film, der sich so sehr in Nuancen artikuliert.
Bis sie zu diesem wehmütigen Einverständnis mit dem Leben gelangen, haben die Figuren und das Publikum einen langen Weg zurückgelegt. Vom Orchester und dem Dirigenten ganz zu schweigen, die die längste Partitur der Stummfilmgeschichte bewältigen mussten. „La Roue“ (Das Rad) von Abel Gance ist sieben Stunden lang in der restaurierten Fassung, die während des Musikfests in Berlin ihre Uraufführung feierte. Bei der Premiere im Dezember 1922 war das Epos sogar neun Stunden lang; sie fand in drei Matineen statt. Im Konzerthaus am Gendarmenmarkt dauerte die Renaissance mehr als einen Arbeitstag, von 14 Uhr bis 23 Uhr abends, mit drei Pausen, die auch deshalb willkommen waren, weil sie kurz waren und das Publikum nicht wirklich aus dem Bann des Films lösten. Und was für ein Pensum war das erst für die höchst konzentrierten Musiker des Rundfunksymphonieorchesters und ihren Dirigenten Frank Strobel, der sie souverän durch eine Partitur führte, die angeblich 17 Kilo wiegt!
Der Film und seine Musikbegleitung ist ein Titanenwerk, das Zeugnis einer großspurigen Vision, aus der keine Großmannssucht spricht, sondern das geduldige Beharren auf Schattierungen. Ich kannte Gance' Film bis dahin nur in einer viereinhalbstündigen Fassung, die auch schon lang und wuchtig genug ist (Sie merken, ich bin kein geübter Lav-Diaz-Seher). Mich hat immer beeindruckt, dass „La Roue“ der bis dahin (und für lange Zeit) einzige Monumentalfilm ist, der seine epische Legitimation nicht aus dem Entfalten eines historischen Freskos bezieht – wie es Gance zuvor mit „J'accuse“ und danach mit seinem „Napoleon“ entrollt hat. Es genügt ihm vollends, „nur“ ein Familienmelodram zu sein. Seine Handlung ist unaufwändig: Der Bahningenieur und Lokführer Sisif rettet ein kleines Mädchen aus den Trümmern eines verunglückten Zuges, nimmt es als seine Tochter auf, dann verlieben er und sein Sohn Elie sich in die erwachsene Norma, die vorsichtshalber an mit dem reichen Geschäftsmann Hersan verheiratet wird. Fürwahr, ein Parforceritt verdrängten und sublimierten Begehrens. „Bin ich denn geboren, nur um Lokomotiven zu lieben?“, entfährt es dem zerrissenen Sisif, dessen Herz, anders als das seines mythischen Vorbilds, keine Erfüllung darin findet, den Kampf gegen Gipfel aufzunehmen.
Zwei Tage zuvor war ich bei einer anderen Premiere gewesen, der von Michael Kliers sehr schönem „Idioten der Familie“, und stellte fest, dass sie gar nicht so unterschiedliche Dramen erzählen: wie eine Familie gezwungen ist, das Leben um eine von ihnen zu organisieren, erst mühsam lernen muss, den Gefühlen freien Lauf zu lassen, was sich in einer nachdrücklichen, auch transgressiven Körperlichkeit des Spiels der Darsteller manifestiert. „Idioten der Familie“ genügt dafür ein Erzählradius von 24 Stunden, bei Gance dauert das Martyrium endlose Jahre: unermesslich, was sich im Innenleben ansammeln kann. Dass die Figuren dabei zu Erkenntnis gelangen, ist in beiden Erzählentwürfen eine lebendige Hoffnung.
Ich hatte die Viereinhalbstundenfassung von „La Roue“ nicht in absolut präziser Erinnerung, merkte dennoch einigermaßen zuverlässig, was in der Rekonstruktion wiederhergestellt wurde. Im ersten der vier Teile ist es beispielsweise eine Reverie Elies, der sich ins Zeitalter der Minnesänger zurückversetzt, um seiner Liebe halbwegs platonischen Ausdruck verleihen zu können (eher kurios als ein Zugewinn). Sisifs Heizer Machefer sorgt im zweiten Teil für noc mehr comic relief (es ist schon ulkig, wie er dem Kolportrageroman „Die Jungfrau auf dem Trottoir“ bis Band 154 die Treue hält). Der dritte Teil war mir fast komplett neu. In ihm gibt es eine Nebenhandlung um eine frühere Geliebte Hersans, der schließlich vor dem finanziellen Ruin steht. Dieser Handlungsstrang ist eminent wichtig, weil Norma darin mehr Kontur und Eigenleben gewinnt. Insgesamt hat sich mein Eindruck des Films nicht wesentlich verändert, die Ergänzungen sind vielmehr Variationen dessen, was ich schon gesehen hatte. Seine epische Intimität bewahrt er sich auch in seiner jetzigen Länge.
„Abel Gance war ein Genie“, sagte Frédéric Bonnaud, der Leiter der Cinémathèque francaise, in der ersten Pause zu mir, „aber er liebt es, sich zu wiederholen.“ Seine Institution war gemeinsam mit der Fondation Jérome-Seydoux-Pathé an der Restaurierung beteiligt (sie besitzt die bis dahin längste Kopie und den Nachlass von Gance), weshalb er natürlich auch Gutes über „La Roue“ zu sagen hatte. Die heutige Kopie sei vielleicht sogar besser als jene, die das Publikum um Frühjahr 1923 zu sehen bekam; vor allem strich er die Farbakzente heraus, die man nun erstmals wieder entdecken kann: das grüne Licht an Sisifs Lok, die roten und grünen Haltesignale, besonders amüsierte ihn der Moment, als Machefer sich den Hosenboden versengt und mit einen glühend roten Fleck davonrennt. Damals musste jede Kopie noch von Hand koloriert werden.
In der zweiten Pause lernte ich Francois Ede kennen, der das Bildmaterial rekonstruiert hat. Aber er wollte gar nicht über seine eigene Arbeit sprechen, sondern stand noch ganz unter dem Eindruck der Musik. Er war begeistert davon, wie punktgenau die Einsätze waren. Die Synchronität von Bild und Musik ist tatsächlich frappierend: Einmal scheinen die Bläser fast mit Norma „Elie“ zu rufen. Die Rekonstruktion der Originalpartitur, die aus 117 zeitgenössischen, vor allem französischen Kompositionen kompiliert ist, war ein zentraler Leitfaden für Edes Arbeit. „Die Intuition und die Repertoirekenntnis, mit der Arthur Honegger und vor allem Paul Fosse (der Kapellmeister des Gaumont-Palace, wo 1922 die Premiere stattfand, d.A.) die passenden Stücke auswählten, ist wirklich bewundernswert“, meinte er. Als Ede zum Schlussapplaus auf die Bühne kam, war ihm anzusehen, wie stolz er war, an der Seite des Dirigenten und des Orchesters zu stehen. Auf dem Festival Lumière in Lyon findet im Oktober die Frankreich-Premiere statt. Danach dreht sich das Rad dann auf arte, an zwei Abenden, am 28. Oktober und am 4. November jeweils ab Mitternacht. Ich glaube, mein Text verträgt auch eine Zweiteilung, für heute ist er lang genug.
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