Eine Romanze ist schön und gut
Natürlich ist diese Überschrift unvollständig, selbstverständlich muss darauf ein "aber" folgen. Sie zitiert einen der bemerkenswertesten Zwischentitel der britischen Stummfilmgeschichte. "Romance is all very well," heißt es hübsch abgeklärt in »Hindle Wakes« von 1927, "but marriage would be a failure." Diese Absage an die Institution der Ehe ist nicht nur insofern unerhört, als damit eine "gute Partie" ausgeschlagen wird. Der Satz charakterisiert auch trefflich die Heldin dieses Melodrams, die sich beherzt über die Konventionen ihrer Epoche und des Genres hinwegsetzt.
Der Stummfilm läuft übermorgen, am Donnerstag, im Rahmen der Frankfurter Frauen Film Tage. Das Festival, das sich auch "Remake" nennt, wird zum zweiten Mal von der Kinothek Asta Nielsen veranstaltet und heute Abend eröffnet. Als Motto dient die schöne Wortschöpfung "Herstory". In diesem Sinne verstehe ich auch den zunächst rätselhaften Festivaltitel: Remake bedeutet im besten Fall ja nicht bloße Wiederholung, sondern zeitgemäße Neuinterpretation. Die Kinothek, die 2019 ihr 20jähriges Jubiläum feiert, arbeitet beharrlich an einer Blickerweiterung der Filmgeschichtsschreibung (in der Frankfurter Rundschau erschien gestern ein informativer Artikel über ihre Aktivitäten sowie den Generationswechsel, der sich gerade vollzieht: https://www.fr.de/frankfurt/klug-schoen-auch-erotisch-13244792.html) und das Festivalprogramm löst diesen Anspruch der Nachbesserung ein: Wann kann man im deutschsprachigen Raum schon mal einen Film der Argentinierin Maria Luisa Bemberg sehen? (Meines Wissens lief zuletzt Anfang des Jahrtausends in der Schweiz eine Retrospektive.) Der Schwerpunkt, der der Dokumentarfilmerin Ella Bergmann-Michel gewidmet ist, schließt an Unternehmungen in Berlin und Wien an, ihre sozial hellsichtigen Arbeit bekannter zu machen. Aus dem Konzept, Regiearbeiten von Frauen zu zeigen, schert »Hindle Wakes« nonchalant aus. Er wurde von Maurice Elvey inszeniert, einem Regisseur, der freilich auch der Wiederentdeckung wert ist. Auf die neu komponierte Partitur der Holländerin Maud Nelissen darf man gespannt sein: Der Film verträgt eine moderne musikalische Interpretation sehr gut.
Er ist selbst ein Remake, die zweite von bislang vier Kino-Adaptionen des Stücks von Stanley Houghton - Elvey drehte auch die erste von 1918, die als verschollen gilt – ; ferner gibt es die TV-Aufzeichnung einer Inszenierung von Laurence Olivier aus dem Jahr 1976. Die Bühnenvorlage, von der es im Vorspann ominös heißt, sie werde "weltweit von Gaumont kontrolliert", machte nach ihrer Premiere 1912 enorm Furore. Sie besaß mehrfach politische Brisanz, weil sie einen unerhört kritischen Blick auf die Klassen- und Geschlechterverhältnisse warf. Auch in den USA wurde sie intensiv rezipiert; die famose Anarchistin Emma Goldman, die Sie aus Warren Beattys »Reds« kennen könnten, veröffentlichte einen vielbeachteten Essay über das Stück.
"Hindle" ist der Name einer fiktiven Industriestadt in Lancashire, die "Wakes" stehen für den einwöchigen Urlaub, der den Arbeitern einer Baumwollspinnerei gewährt wird. Die sozialen Sphären sind scharf voneinander getrennt: in die Cotton Street und die Midas Avenue. Zugleich besteht der Film aber auf ihrer Untrennbarkeit und bezieht seinen Spannungsbogen aus der Frage, ob die Grenze zwischen ihnen nicht durchlässig sein könnte. Tatsächlich sind der Vater der Heldin Fanny Hawthorne und deren Arbeitgeber, der Industriemagnat Jeffcote, seit langer Zeit enge Freunde und wären beinahe Partner geworden.
Die Belegschaft fiebert eingangs den Ferien entgegen - "The bond slaves of cotton are knowing the ecstasy of freedom" kündigt ein Titel dies mit klassenkämpferischer Schärfe an -, und man spürt wunderbar die Atmosphäre dieses letzten Arbeitstages, an dem die Mühen weniger schwer auf ihr lasten. Die Einstellung der Arbeitsschuhe, die die Arbeiterinnen vergnügt ausziehen, ist großartig. Die meisten von ihnen brechen am nächsten Tag nach Blackpool auf, darunter auch Fanny und ihre beste Freundin. Im Küstenort treffen sie Jeffcotes Sohn Allan und seinen bald zudringlichen Begleiter. Im Trubel der Kirmes (der deutsche Verleihtitel hieß »Jahrmarkt der Liebe«) bahnt sich besagte Romanze zischen Fanny und Allan an, die endgültig während eines heimlichen Ausflugs nach Wales aufblüht. Die Impressionen von Blackpool sind atemberaubend. Die Achterbahnfahrt, in subjektiver Einstellung gedreht, würde man heute wohl immersiv nennen. Die Massenszene auf der Tanzfläche (viele der Paare sind Frauen) sind ebenso spektakulär. Derweil stehen in Hindle die Maschinen still, allein Fannys Vater inspiziert sie hingebungsvoll.
Elveys Schauplatzrealismus macht seinen Film zu einem staunenswerten Vorläufer des kitchen-sink-Kinos der 60er Jahre. »Hindle Wakes« eignet ein Flair des Dokumentarischen, das heute ungemein lyrisch wirkt: Er beschwört eine Idylle des Industriezeitalters; inklusive des befristeten Fluchtpunkts der aufstrebenden Freizeitindustrie. Elvey bestand darauf, dass seine Darsteller den Umgang mit Baumwollspindeln wochenlang einübten.
Daheim verwandelt sich der Film wieder zurück ins Familien- und Gesellschaftsmelodram. Der Industriebaron ist bemerkenswert differenziert gezeichnet: ein Patriarch, der seinen Sohn eigentlich mit der Tochter eines Konkurrenten verheiraten will, was nun aber in Konflikt mit seinen Vorstellungen von Ehre und Anstand gerät. Fannys Mutter wiederum ist zwar wütend über die Liaison ihrer Tochter, kann sich alsbald aber mit der Aussicht auf eine lukrative Vermählung anfreunden. Das letzte Drittel des Films jedoch wird erfreulich dominiert von Fannys Eigensinn. Die Amerikanerin Ellen Brody ist bestrickend in der Rolle, sie steht prächtig ein für ihre Unabhängigkeit. Diese junge Frau will nicht verscherbelt werden. "I'd be given away like a pound of tea." erklärt sie gegenüber dem zaudernden Allan, dessen Verlobte übrigens auch bemerkenswert vielschichtig angelegt ist. Auf ihre Freiheitsliebe reagiert er gefasst: "I can't make you out, Fanny, but you're a right good sport". Sie merken schon, wie gern ich die Zwischentitel dieses Films zitiere. Aber glauben Sie mir, seine Bilder sind ihnen ebenbürtig.
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