Brutkästen fürs Erzählen
Erinnern Sie sich noch an die Anzeigen, in denen „international renommierte“ Verlage um neue Autoren warben? Sie wirkten gediegen, sogar einigermaßen seriös, obwohl die Verlagsnamen auffällig oft berühmteren ähnelten. Die Namen der Autoren hingegen, die sich als zufriedene Nutznießer dieses Geschäftsmodells präsentierten, waren eher unbekannt. Auf Bestsellerlisten suchte man sie vergeblich. Sie trugen, um mit dem Schriftsteller Léonard (Vincent Macaigne) aus „Zwischen den Zeilen“ zu sprechen, nicht gerade viel zur Abholzung bei.
Es gibt diese Anzeigen nach wie vor; nun werden sie auch digital geschaltet. Noch immer werben sie übrigens mit Abbildungen von Schreibmaschinen. Auch wenn ihr Auftauchen gewisse Zweifel an der Geistesgegenwart der Verleger wecken mag, schauen sie allemal glamouröser als Rechner aus. Und wer weiß schon, wie viele Leute da draußen noch immer davon träumen, der nächste Hemingway zu sein? Insofern bestätigen die werblichen Wiedergänger vielleicht durchaus den Argwohn des Verlegers Alain (Guillaume Canet) aus Olivier Assayas' „Zwischen den Zeilen“, mittlerweile gebe es mehr Bücher als Leser. Der Protagonist von Bodo Kirchhoffs Roman „Widerfahrnis“ kam vor drei Jahren zur gleichen Erkenntnis.
Aber während Kirchoffs Reither sich selig aus dem Geschäft zurückgezogen hat, macht Assayas' Protagonist weiter wie bisher. Das ist die heimliche Pointe seiner Komödie der Verunsicherung. Die Krise ist nur ein Wort, das die Konversation bestimmt, aber unsichtbar bleibt. Sie stellt keine unwiderrufliche Aufforderung dar, Rückschlüsse zu ziehen. Ein heikler Kniff des Films ist ja, dass er ebenso aus der Zeit gefallen scheint wie obige Anzeigen. In ihm wird über Probleme debattiert, als seien sie brandneu und erschütterten das Buchgeschäft nicht schon seit wenigstens 15 Jahren.
„Zwischen den Zeilen“ erzählt von einem Milieu, das hauptsächlich damit beschäftigt ist, sich selbst am Laufen zu halten. Der Film weckt keine Lust aufs Lesen: Ihm ist das gesprochene Wort teurer als das geschriebene. Das muss man Assayas nicht vorwerfen, sondern eher schon Filmen wie „Book Club“ oder „Der Buchladen der Florence Greene“, die vorgeben, ein gewisses Eros des Lesens im Schilde zu führen. Dabei steht noch nicht mal fest, ob es dem Buchmarkt wirklich so schlecht geht, wie hier zu Lande beklagt wird. In Großbritannien beispielsweise verzeichnet er derzeit wieder erfreulich ansteigende Verkaufszahlen. Und es ist vielleicht keine komplett schlechte Nachricht, wenn der Hedgefonds Elliott gerade die Buchkette Barnes &Noble in den USA erworben hat. Vielleicht wird es ihr irgendwann mal so ergehen wie Waterstone in England, die sie vor ein paar Jahren übernahmen. Sie schreibt schwarze Zahlen (auf dem Rücken der Angestellten allerdings), seit der ehemalige Bankier James Daunt die Geschäftsführung übernahm.
Es lässt sich natürlich nicht von der Hand weisen, dass die digitale Konkurrenz das bedruckte Papier immer weiter aus dem Antlitz der Städte vertreibt. (Obwohl, auch da gibt es feine Unterschiede: In der Berliner U7 überwiegen morgens die Smartphone-Konsumenten, beim Umsteigen in die U1 oder U3 indes darf ich regelmäßig feststellen, dass dort der Anteil der Bücher- und Zeitungsleser hoch ist.) Ein Freund berichtete mir, dass er in der Hamburger Straßenbahn gerade Bücherregale entdeckte, aus denen sich die Passagiere bedienen oder die sie auffüllen können.
Was die Lektüre von Pendlern anbelangt, beschreitet wiederum London interessante Wege. An der Tube-Station Canary Wharf können Untergrundpassagiere seit April sich von einem Automaten Short Stories ausdrucken lassen, deren Länge auf kurze Strecken ausgelegt sind. Sie spucken Geschichten von Dickens, Lewis Carroll, oder Virginia Woolf aus, die man bequem zwischen drei, vier Stationen bewältigen kann. Anthony Horowitz, obzwar ein besserer Fernsehautor als Literat, hat dafür gerade eine spannende Drei-Minuten.Geschichte ersonnen.
Das Beispiel hat bereits Schule gemacht. In Frankreich, Hong Kong und den USA wurden weitere Automaten installiert; Francis Coppola war so begeistert von der Idee, dass er kurzerhand in die französische Firma „Short Édition“ investierte, die die Apparate schon seit 2015 betreibt und über 60000 Kurztitel im Angebot hat. Die Idee ist nicht neu. Der Verlag Penguin hat sie bereits 1937 entwickelt. Nach der Probephase hat man meines Wissens jedoch nicht mehr viel von seinen kuriosen „Penguincubators“ gehört.
Dafür sorgt eine andere Art der Inkubation momentan in den USA für Furore. Der umtriebige Jeffrey Katzenberg, der sich seine Sporen weiland bei Touchstone/ Disney verdiente, wirbt dieser Tage für eine finanziell offenbar gut ausgestattete Videoplattform namens Quibi (für „quick bites“, schnelle Häppchen), die im April 2020 an den Start gehen soll. Sie versteht sich als Brutkasten für erzählerische Kurzformate von sieben bis zehn Minuten Dauer. Steven Soderbergh, der stets für innovative Produktions- und Vertriebswege zu haben ist, konnte er bereits für ein Projekt gewinnen. Auch Steven Spielberg, mit dem Katzenberg einst Dreamworks gründete, ist mit an Bord. Er entwickelt eine Horror-Serie, deren Episoden passenderweise erst nach Einbruch der Dunkelheit abrufbar sein werden. Antoine Fuqua arbeitet derweil an einem zweieinhalbstündigen Film, der dann in schnellen Häppchen präsentiert wird. Das Kurzformat könnte sich mithin, wenn das Konzept verfängt, als filmischer Fortsetzungsroman etablieren. Auch das gab es ja schon mal. Auf dieses Weise haben Zeitungsleser im vorletzten Jahrhundert Romane von Dumas, Dickens und anderen entdeckt. Manche Dinge ändern sich nicht, würde jetzt wohl eine der krisengeschüttelten Figuren aus Assayas' Film sagen. Aber wir anderen warten vielleicht lieber ab, ob im nächsten Frühjahr das Erzählen nicht doch neu erfunden wird.
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