Auf der Fraueninsel
Es ist mag überraschen, dass eine Regisseurin wie sie unversehens einen Kostümfilm dreht. Unausweichlich war das nicht. Aber ebenso wenig widerspricht es der erstaunlichen Logik ihrer Karriere. Céline Sciammas ersten drei Regiearbeiten handelten von Verwandlung, vom unwägbaren Prozess der Selbstwerdung. Warum sollte sich die Filmemacherin selbst davon ausnehmen wollen?
Natürlich wäre es interessant, sie zu dem Bruch zu befragen, den »Porträt einer jungen Frau in Flammen« in ihrem Werk darstellen könnte. Es muss keiner sein. Vielleicht ist er nur eine Metamorphose, die unter Vorbehalt steht. Danach kann sie weiter vom Heranwachsen in der Gegenwart erzählen. Aber womöglich will sie es ja nicht mehr. Im Gegenzug müssen wir ihren neuen Film auch nicht als ein Werk der Reife betrachten, die zeichnete schon »Water Lillies«, »Tomboy« und »Bande de filles« aus.
Jedoch hält mit ihrem vierten Film eine andere Gravitas Einzug. Die drei Vorgänger erzählten vom Hochgenuss der Schwebezustände, vom Treiben im Wasser oder davon, sich auf dem Gepäckträger des Fahrrads stehend oder aus dem Schiebedach eines Autos herausragend, abenteuerlustig dem Fahrtwind auszusetzen. Als die Malerin Marianne (Noémie Merlant) auf die Insel vor der bretonischen Küste übersetzt, ist zunächst die physische Anstrengung der Seeleute beim Rudern zu spüren. Das ist schon, weinge Minuten nach Beginn des Films, die Gestik einer früheren Epoche. Dann gehen ihre Staffelei und die zwei Leinwände über Bord, woraufhin sie sich in die Fluten stürzt. Den Ruderern ist es gleichgültig, ob ihre Passagierin der Schwerkraft trotzt. Als die junge Frau bei der Ankunft sich und ihre Leinwände vor einem Kamin trocknet, nackt und eine Pfeife rauchend, ist sie bereits eine selbstbestimmte Figur der Moderne, aber nicht vollends deplatziert im Frankreich von 1770. Heloise (Adèle Haenel), die ihr später Modell steht für ein Porträt, weiß übrigens nicht, ob sie schwimmen kann oder nicht. Dieses Wissen schien der Epoche für eine Frau nicht notwendig; die Konventionen sahen derlei körperliche Betätigung für Angehörige des Adels nicht vor.
Sciammas bisherige Filme handelten von den Möglichkeiten, die von jungen Frauen in der Gegenwart zu erstreiten sind. Hier ist der Spielraum begrenzter, er muss erweitert werden. Für Francois Truffaut waren Kostümfilme, die ihm meist der große Jean Gruault schrieb, ein Terrain, das eine größere Heftigkeit der Gefühle zuließ. Ihm fiel auf, dass so viele seiner Filme bei Kerzenlicht spielen; manchmal hatte er Angst, dass er es mit den Kerzen übertreibe. Das war eine andere Kinoepoche. Heftigkeit hat die Generation Céline Sciammas in der Gegenwart zur Genüge entdeckt. Weshalb also vollzieht sie in "Porträt" nun diesen Registerwechsel?
Ich glaube nicht, dass sie sich damit einen brennenden Kinotraum erfüllte, dass sie Lust hatte, andere inszenatorische Muskeln spielen zu lassen – obwohl sie durchaus eine andere Gestik entdeckt und in Szene setzt. Es ist, daran besteht kein Zweifel, eine andere Disziplin, die sie meistern will. Sie kann ihre Auffassung vom Kino neu ordnen, vielleicht auch ausrichten. In Interviews nimmt sie Bezug auf »Das Piano“«und sogar auf »Titanic«. Letzteres, da nehme ich eine andere Position ein als Birgit Roschy in ihrer sensibel die Blickwechsel der Akteurinnen aufnehmenden Kritik in der aktuellen epd-Ausgabe, muss man nicht für bare Münze nehmen. Vielmehr fasziniert mich, wie Sciamma sich in erzählerische Situationen vertieft, die nur in dieser und nicht mehr in späteren Epochen gültig sind. Bevor ich auf den zenralen Punkt zu Sprechen komme, nur eine kleine Abschweifung. Sie betrifft die Szene, in der Marianne und Heloise die Dienstmagd der Familie, Sophie (Luàna Bajrami) zu einer Engelmacherin begleiten. Der Film spielt beinahe exklusiv unter den Frauen dieser Insel, die Männer sind zu wenig nutze (wie die Geschichte der Überfahrt zeigte), aber diese interessante, klug gezeichnete Figur ist eben doch im dritten Monat schwanger. Als der Abort vorgenommen wird, liegt sie auf dem Bett der Engelmacherin, zärtlich umfangen von deren kleinen Kindern. Ein solcher Moment lässt sich für die Jetztzeit nicht imaginieren.
Noch maßgeblicher für den Film ist natürlich das Verhältnis von Porträtistin und Modell. Dergleichen wird mit der Erfindung der Fotografie zwar nicht vollends obsolet, aber hier hat es noch eine ganz aristokratische und nicht bürgerliche Bewandtnis. Das Porträt dient der Besiegelung einer Heirat, gegen die sich Heloise sträubt. Die Sitzungen sind ein Tauziehen. Die Machtverhältnisse sind heikel, Heloise ist nicht nur Muse, sondern in vertrackter Weise auch widerspenstige Mäzenin der Malerin. Wer hat die Kontrolle über die Situation und am Ende über deren Ergebnis? Das ist ein spannungsvoller Prozess, der gar zu einer liebenden Komplizenschaft wird. Sciamma gibt den beiden Zeit, sich wahrhaft kennen zu lernen, einander zu studieren und zu entdecken. Das ist ein Privileg, denn wann schaut man sich im Leben schon so aufmerksam und durchdringend an?
Es liegt etwas Wegweisendes in dieser Geschichte. Nicht nur, weil Sciamma die Malerinnen dieser Epoche zu rehabilitieren versucht, die zahlreich und begabt waren, aber aus der Kunstgeschichte getilgt sind (in der Regel waren es Malerstöchter, deren Arbeiten von den Vätern signiert wurden). Marianne betreibt selbstbewusst ein Geschäft und eine Kunst. Diese wunderbar entdeckungsfreudige Liebesgeschichte ist aufgehoben in einer Utopie weiblicher Autarkie. Es scheinen nur Frauen auf dieser Insel zu leben. Der Chorgesang der Bewohnerinnen (komponiert von Sciammas Studienkollegen Jean-Baptiste de Laubier, für den sie zwei Kurzfilme schrieb, der danach aber keine weiteren Regiepläne zu verfolgen scheint, sondern unter dem Pseudonym "Para One" für die Musik ihrer Langfilme zeichnet) gibt den Rhythmus dieses lebhaft entrückten Lebens vor.
In Cannes liefen Sciammas Filme zuvor in wichtigen Nebensektionen, aber es war, der Logik des französischen Autorenfilms und seiner Protektion entsprechend sozusagen unausweichlich, dass sie es bald in den Wettbewerb schafften würde. Für »Porträt einer jungen Frau in Flammen« gewann sie den Drehbuchpreis. Viele Beobachter hätten sie höher veranschlagt bei der Palmenvergabe. Sie wird demnächst bestimmt hochkarätigere bekommen. Aber das ist kein Trostpreis. Denn Sciamma ist eine hervorragende Szenaristin. Sie hat ein Gespür für Ellipsen, und ein ebenso sicheres für Präsenz. Ich habe es gar nicht so gern, wenn sie von den Büchern, die sie für andere Regisseure schreibt (etwa den wunderbaren Puppenfilm »Mein Leben als Zucchini« und »Mit Siebzehn« von Téchiné; ein Projekt mit Jacques Audiard scheiterte leider), als Entspannung oder Erholung spricht. Das sind keine zweitrangigen Arbeiten, sondern vollgültiger Ausdruck ihres erzählerischen Temperaments. Sie schreibt in eigenem Namen. Das hat sie der Epoche von Marianne voraus.
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