Die Naht des Stiefels
In »La Luna« von Bernardo Bertolucci gibt es eine Szene, in der Jill Clayburgh und Renato Salvatori Rast in einem Gasthaus machen. Sie ist wunderschön, interessiert mich hier aber zunächst einmal unter kulinarischen Aspekten.
Sie, eine amerikanische Operndiva auf Italienreise, ist irgendwo im Po-Delta verloren gegangen (ich glaube, sie hatte einen Autounfall) und er, der ortskundige Einheimische, nimmt sie in seinem Wagen (einem Fiat Cinquecento, wenn ich mich nicht irre) mit. Die Szene fungiert wie eine Parenthese, ein entspanntes Luftholen in Bertoluccis Film. Sie flirten etwas miteinander, was folgenlos bleibt, da er schwul ist, aber keineswegs vergebens ist. Der stolze Wirt serviert ihnen eine lokale Delikatesse, Culatello, einen Schinken, der im Nebel des Po-Deltas reift.
Ich hege gewisse Vorbehalte gegen luftgetrocknete Schinken. Als Nachfahre westfälischer Bauern bin ich mit dem Geruch von Rauch aufgewachsen. Es gab zwar längst keine Hausschlachtungen mehr bei uns, aber das Aroma hat sich eingefressen in Wände und Möbel. Ich habe den Duft noch in der Nase. Der Culatello jedoch erschien mir eine interessante Alternative zum Parma-Schinken, der mir immer etwas zu süß schmeckt. Obwohl er in der Herstellung aufwändig und teuer ist, findet er sich mittlerweile auch im Sortiment hiesiger Discounter; zumindest zu Festtagen. Richtig befriedigend ist das nicht; bestimmt stammen diese Produkte aus industrieller Fertigung.
Als ich erfuhr, dass das Italienische Kulturinstitut eine Ausstellung über das Filmschaffen in der Region Emilia Romagna zeigt, ging ich insgeheim auch mit lukullischen Erwartungen zur Eröffnung. Da wurde dann zwar nur sehr würziger Käse aus Parma angeboten. Aber das sollte die einzige Enttäuschung des Abends sein. Gian Luca Farinelli von der Cineteca Bologna hielt die Einführung. Er wurde vorgestellt als Leiter einer Institution, die Weltmarktführer auf dem Gebiet der Filmrestaurierung ist. Das wird niemand bestreiten, der sich auf diesem Gebiet auskennt. Ich hatte Gian Luca schon ein, zwei Mal im Filmmuseum erlebt. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein Buchhalter: Stets trägt er eine enorme Anzahl von Kugelschreibern und Bleistiften in der Brusttasche (aus Furcht, kein Schreibgerät zur Hand zu haben, wenn er nur eines dabei hat, das verloren gehen könnte). Wer ihm zuhört, merkt rasch, dass er die Seele eines vergnügten Poeten besitzt.
Die Emilia Romagna ist zwar nicht Weltmarktführer in Sachen Filmproduktion, hat dem Kino aber ungeheuer viel geschenkt. Bis zu diesem Abend machte ich mir keine Vorstellung davon, wie viele Filmkünstler aus der Region stammen, die man in Italien den Naht des Stiefels nennt. Gewiss, ich wusste, dass Antonioni in Ferrara geboren wurde, Bertolucci in Parma, Fellini in Rimini und der große Drehbuchautor Tonino Guerra in dem kleinen Ort Santarcangelo di Romagna; Pasolinis Herkunft verortete ich im Friaul (tatsächlich hat er in Bologna studiert). Es war mir neu, dass auch Pupi Avati aus der Region stammt (hätte man wissen können, da seine Filme obsessiv dorthin zurückkehren), ebenso wie Marco Bellocchio, Vittorio Cottafavi und Valerio Zurlini. Cesare Zavattini wiederum wurde in Luzzara geboren, wo der wunderbare Fotoband mit Paul Strand entstand, der großen Einfluss auf den Neorealismus hatte.
Diese Häufung sei kein Zufall, führte Gian Luca Farinelli aus, vielmehr gehöre die Kultur zum Erbgut der Region. Sie verfügt über eine wichtige Theatertradition – Giusseppe Verdi lebte dort -, auf die man Schritt und Tritt trifft. In Bologna entstand das erste mit öffentlichen Mitteln erbaute Opernhaus und die Gegend verfügt über die stärkste Dichte an historischen Theatern. Die Malerei hat hier eine ebenso ruhmreiche Geschichte. Der Carracci-Clan führte den Manierismus aus seiner Krise und wies den Weg zum Barock. Annibale Carraci, den ich noch aus meinem abgebrochenen Kunststudium kannte, gründete erst die »Akademie der Sehnsüchtigen« und dann die der »Fortgeschrittenen«. Crespi entfaltete einen Katalog von Alltagssituationen, die er in seinen Gemälden fast filmisch ablaufen lässt. Boldini inspirierte des frühe italienische Kino maßgeblich, seine Frauenporträts ahnen die Diven-Filme voraus. Morandi schließlich gab der Moderne wichtige Impulse. Fellini zeigt einige seiner Bilder in »La Dolce Vita«, Zurlini sammelte ihn und ich erinnerte mich an die Stillleben, die ich in der Joel-Meyerowitz-Ausstellung gesehen hatte (siehe »Die Röte des Rots« vom 21.12.). Gian Luca stellte schlüssige Bildverwandtschaften her zwischen den Gemälden und Filmszenen.
Eine weitere Konstante im Kino der Region war für ihn die Zuverlässigkeit, mit der sie zur Stelle war, wenn Schlüsselfilme und Wendemarken des italienischen Films entstanden. In der Emilia drehte Visconti »Ossessione«, das erste Werk des Neorealismus, im flachen Land (»das alle verlassen wollen, jeder hat einen Koffer in der Hand«), das auch die »Landstraße der Sehnsucht« genannt wird. Die Partisanen-Episode aus Rossellinis »Paisà« entstand an den Ufern des Po. Bellocchios Debütfilm ,»Die Fäuste in den Taschen« spielt in Piacenza, im armen, nördlichen Zipfel der Region. Fellini hingegen, der »größte Betrüger der Filmgeschichte« hat praktisch nie in seiner Heimat gedreht. Die Außenaufnahmen zu »Die Müßiggänger« entstanden in Ostia und der Rest seines Werks in Cinecittà.
Obwohl meine Begleiterin und ich zusehends vom Hunger geplagt wurden, lauschten wir gebannt dem Vortrag. Für die Aufzeichnung des legendären Fußballspiels zwischen den Teams von »1900« und »Salò« (Bertolucci und Pasolini müssen sich erbittert gehasst haben) war am Ende leider keine Zeit mehr. Dafür liefen zauberhafte Outtakes aus »Amarcord«, diesem »erhabenen, zutiefst provinziellen Film«, der auf Fellinis lebhaften Kindheitserinnerungen beruht. Wir kamen an diesem Abend übrigens gar nicht dazu, die Ausstellung zu sehen. Dies Vorhaben wurde durch die Einladung, ihn mit Gian Luca zu verbringen, charmant vereitelt. Ich komme endlich heute Nachmittag dazu, die Schau zu besuchen. Am Wochenende werden Sie erfahren, wie sie ist.
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