Zeitfenster für den Sittenverfall
Es gibt Perioden in der Filmgeschichte, die nur ein kurzes Aufflackern sind. In den Hollywoodfilmen der frühen 1930er Jahre herrschten mit einem Mal Anarchie und Sittenlosigkeit. Die Machenschaften von Sensationsreportern, Winkeladvokaten, Gangstern und Goldgräberinnen mussten plötzlich nicht mehr bestraft werden. Huren mussten nicht mal ein goldenes Herz haben, um sympathisch zu sein.
Für eine kurze Spanne, vom Durchbruch des Tonfilms bis 1934, ging Hollywood unbekümmert auf die Jagd nach den Sensationen Gewalt und Sex. Wie ergiebig sie war, zeigt ab heute Abend eine großangelegte Retrospektive im Münchner Filmmuseum. »Hollywood ohne Schranken« wird eröffnet mit einem ziemlich unbekannten Film (»The Sin of Nora Moran«) und dauert bis Mitte November. Unter Historikern heißt die schillernde Epoche, die hier besichtigt wird, die »Pre-Code-Ära«, weil sie vor der endgültigen Durchsetzung eines moralischen Regelwerks für die Filmproduktion liegt. Der Einführungstext, den Miles Mashon von der »Library of Congress« für das Programmheft geschrieben hat (auf der Seite des Filmmuseums ist es als pdf abrufbar) stellt ausführlich die politischen und ökonomischen und geographischen Hintergründe für die Entstehung des Production Code dar.
Bereits in den 20er Jahren, als Sex- und Drogenskandale Hollywood erschütterten, wurde der Ruf nach einer sauberen Leinwand laut. Der ehemalige Postminister Will Hays propagierte eine bundesweit gültige Selbstkontrolle und erarbeitete 1930 mit Vertretern der katholischen Kirche einen Leitfaden, der u.a. die züchtige Darstellung der Geschlechterbeziehungen garantierte, die respektvolle Behandlung religiöser und patriotischer Gefühle vorschrieb und die Verherrlichung des Verbrechens untersagte. Das lag aus vielen Gründen im Interesse der Studios, zumal die Freigabe ihrer Filme bis dahin den Unwägbarkeiten der Gesetzsprechung in den einzelnen Bundestaaten unterlag. Als verbindlich akzeptierten sie den Moralkodex erst 1934, als die Drohung eines katholischen Kinoboykotts die Traumfabrik lahmlegte. Seine Umsetzung war erschütternd kleinlich – Küsse durften nicht länger als drei Sekunden dauern, der Abstand zwischen Ehebetten wurde mit dem Zentimetermaß festgelegt – , aber gültig war er bis in die 60er Jahre.
Die Retrospektive, die das Berlinale Arsenal vor rund einem Jahr diesem Thema widmete, entnahm ihren unternehmungslustigen Titel Coles Porters Song »Let's misbehave«, einer Hymne an den unbekümmerten Hedonismus der 20er Jahre: Das Lebensgefühl des leichtsinnigen Jazz Age hielt mit ein paar Jahren Verspätung Einzug ins Kino. In München geht es etwas weniger ausgelassen zu. Die Reihe ist thematisch strukturiert, gruppiert die einzelnen Filme unter Schlagworten wie »Verlockung des Verbrechens«, »Soziale Klüfte« oder »Freies Unternehmertum« und signalisiert damit, dass es um die Kollision der Nonchalance mit der Verzweiflung der Depressionsära geht.
Die Filme spiegeln dieses Zeitklima wider, in dem sie eine eigene Ästhetik der Freizügigkeit formulierten. Sie stoßen die Tür zur Wirklichkeit einen Spalt weiter auf, als es unmittelbar davor und danach im US-Kino üblich war. Ihr Tempo ist atemlos (selten dauern sie länger als 80 Minuten), sie sind rissig und rauschhaft erzählt, Abblenden brechen mitunter mitten in Dialogzeilen ein, in rasanten Montagesequenzen wird die Handlung dynamisch gerafft. Waghalsige Ellipsen fungieren als short cuts der Phantasie; Regisseure wie Ernst Lubitsch vertrauten auf die Weltläufigkeit ihres Publikums. Ein verschollenes Kino der frech schweifenden Blicke ist zu entdecken, in dem ein Kuss auch mal so leidenschaftlich sein durfte, dass sich die Liebenden auf die Lippen bissen. Der Choreograph Busby Berkeley entwarf in seinen Musicals Kaleidoskope der Schlüpfrigkeit. Freilich erschöpfte sich das Pre-Code-Kino nicht in launiger Respektlosigkeit. Es warf Schlaglichter auf die pathologische Seite der Sexualität. Von Abtreibung, Inzest und Vergewaltigung wurde nicht nur in verschwiegenen Andeutungen erzählt.
Die ruchlose, vergnügliche Tabuverletzung im Namen von Unterhaltung und Profit brachte einen eigenen Schauspielstil hervor. Erstaunlich, welches Spektrum moralischer Schattierungen zwischen Anzüglichkeit und Verworfenheit den Darstellern zu Gebote stand. Der windige, wenngleich nie vollends skrupellose Depressionsgewinnler James Cagney war die ideale Verkörperung des Stils; dicht gefolgt von Barbara Stanwyck, in deren Stimme Geschäftssinn und Verlockung lasziv verschmolzen, sowie dem heute unbekannten Warren William, der die Belästigung am Arbeitsplatz als schöne Kunst betrachtete.
Ein Großteil der Filme spielt in den hektisch gewachsenen Großstädten, regelmäßig schwenkt die Kamera an Wolkenkratzerfassaden empor und unterstreicht so den Ehrgeiz, um jeden Preis Karriere zu machen. In »Baby Face« schläft sich Stanwyck reuelos nach oben und beherzigt dabei den Rat eines Verehrers, Nietzsche zu lesen. Zumal die Produktionen von Warner Brothers reagierten unmittelbar auf die Zeitströmungen, entnahmen ihre Stoffe geradewegs den Schlagzeilen. William Wellman inszenierte während der Depressionszeit Dramen fortgesetzter sozialer Degradierung wie »Wild Boys of the Road«, in denen die sprichwörtliche amerikanische Mobilität eher als Verdammnis denn Chance erscheint. Oft finden die Pre-Code-Filme fortschrittliche Lösungen für die bedrängenden sozialen Probleme. Es werden Kooperativen gebildet und mit einem Mal werden Streiks als legitime Mittel des Arbeitskampfes kinofähig. Den Mythos der Individualität stellt die grimmige Inszenierung von Massenszenen nachhaltig in Frage; nie wieder sollte man danach auf US-Leinwänden so lange Arbeitslosenschlangen sehen.
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