Großes Kino im Konzertsaal
Die Saison beginnt gerade wieder: Allerorten wird nun verstärkt gehustet. Natürlich auch in den Kinos, wo es aber vielleicht doch ein geringerer Störfaktor ist als bei anderen Kulturdarbietungen. Der Kinosaal absorbiert dieses Geräusch womöglich leichter. Es tritt dort ohnehin in Konkurrenz zur Digitalkommunikation und analogen Formen der Schwatzhaftigkeit. Der Film ist allerdings auch ein Medium, das Alltagsgeräusche weit selbstverständlicher integriert als etwas das Theater oder die Konzertbühne.
Vor Konzerten der Berliner Philharmoniker etwa wird das Publikum im Scharoun-Bau regelmäßig von einer Lautsprecherstimme ermahnt, vom Husten abzusehen. Das führt unweigerlich zu Amüsement, wenn die disziplinierten Zuhörer zwischen den Sätzen dem bis dahin beherrschten Reiz nachgeben. Dieses Gebot bedeutet nicht zwangsläufig, dass Konzertgänger aufmerksamer als Kinobesucher sind. Ich nehme an, es wird vielmehr aus Rücksicht auf die Künstler ausgesprochen.
Vor ein paar Wochen hat es auch mich ziemlich erwischt: die erste Erkältung seit vielen, vielen Jahren. Vollmundig habe ich diese Verschonung bis dahin immer auf meinen ausgiebigen Zigarrenkonsum zurückgeführt. Tatsächlich bestätigte mir einmal ein kluger Mensch diese paradoxe Theorie: Durch das Rauchen würden Keime und Bakterien vernichtet. Seither erscheint mir diese Schlussfolgerung doch etwas anfechtbar.
Wie gesagt, ich war erkältet und entschloss mich, von dem Angebot der »Digital Concert Hall« der Philharmoniker Gebrauch zu machen. Das erschien mir ohnehin als eine famose Idee, da man als Abonnent nicht nur Konzerte aktuell als Live-Stream mitverfolgen, sondern auch auf das Archiv zurückgreifen kann, das bis in die Karajan-Ära zurückreicht. An besagtem Samstagabend freute ich mich auf ein Konzert, bei dem Zubin Mehta neben Stücken von Camille Saint-Saens und dem mir unbekannten Franz Schmidt auch Erich Wolfgang Korngolds »Konzert für Violine und Orchester« dirigierte, dessen drei Sätze auf Motiven aus diversen Filmmusiken für Warner Brothers beruhen: Das Moderato nobile geht auf »Another Dawn« und »Juarez« zurück, die Romanze auf »Anthony Adverse« und das Allegro vivace auf »Der Prinz und der Bettelknabe«. Filmusikliebhaber wissen diese Abkunft zu schätzen; der in Wien geboren Korngold war der künstlerisch wahrscheinlich erfolgreichste Exilant der 30er, und die genannten Filme gehören zu seinen Glanzleistungen (wobei das unbekanntere Melo »Another Dawn« von all seinen Filmen wohl den spärlichsten Musikeinsatz aufweist und angeblich insgeheim als Probe für das erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufgeführte Violinkonzert gedacht war).
Ich hatte meine helle Freude an der Live-Übertragung, zumal der Hustenreiz mittlerweile von einem Schnupfen abgelöst worden war. Der Solist Gil Shahan verzückte das Publikum. Er legte sich leidenschaftlich ins Zeug für die Partitur, die er zuvor bereits mit André Prévin eingespielt hat. Mich erinnerte der charmante Virtuose ein wenig an Al Jolson, den Star aus »The Jazz Singer«, was schon mal prächtig zur frühen, großen Tonfilmperiode der Warner Brothers passte. Sein schwelgerisch-melodramatisches Insistieren begeisterte mich. Er hatte sichtliche Freude am Gelingen. Mir war klar, dass sich seine Solopartien von der Filmmusik ablösten, ein Eigenleben gewannen. Aber zumal im Dritten Satz war eine flotte Klangfülle zu spüren, die genau der Unternehmungslust Errol Flynns im Film entsprach. In der Pause erfuhr ich, dass Shahan auf einer Stradivari spielte, die aus dem Jahr 1699 stammt und auf eine bewegte Geschichte zurückblicken kann.
Mithin wähnte ich die als unselbstständig verschrieene Filmmusik vollends im Musentempel Philharmonie angekommen. Die Konzertkritik, die ich daraufhin im Berliner »Tagesspiegel« las, belehrte mich eines Besseren. Der Rezensent empfand dieses Beispiel üppiger Spätromantik als zu sahnig; er schmähte es gar als schmierig. Andererseits wurden diesem Wochenende in Berlin diverse Werke von Filmkomponisten aufgeführt. Ein populäres Symphonieorchester gab Richard Addinsells berühmtes »Warsaw Concerto«, ein Stück im Stil Rachmaninows, das während des Zweiten Weltkriegs zu einem Millionenerfolg wurde, nachdem es erstmals im Film »Dangerous Moonlight« erklang. (Ein wunderbarer Titel, der indes nicht mehr ganz so romantisch anmutet, wenn man bedenkt, dass die Geschichte während der Flugangriffe der Nazis auf Polen spielt.) Auch Nino Rotas »Konzert für Streicher« wurde an diesem Wochenende dem Berliner Publikum zu Gehör gebracht und musste sich neben Schostakowitschs 1. Klavierkonzert und Strawinskys »Sacre du Printemps« behaupten.
Eine solch systematische Integration in die Spielpläne renommierter Klangkörper finde ich ermutigend. Wird Filmmusik damit in die höheren Weihen der ernsten Musik aufgenommen? Das finde ich ohnehin eine üble Kategorie, weil sie auf Ausgrenzung zielt. Der Status von Filmmusik im Konzertsaal bleibt prekär. Sie gilt wohl immer noch als effektsicheres Geklingel. Das ist vermutlich nicht nur in Deutschland der Fall. Bei den populären Sommerkonzerten diverser Orchester wird sie ganz selbstverständlich gespielt. Die Nordwestdeutsche Philharmonie etwa integriert sie gern in solch bunte Programme. So konnte ich im August Auszüge aus Korngolds »The Sea Hawk« (Herr der sieben Meere) neben Hector Berlioz' Ouvertüre zu »Le Corsaire« hören und dufte als Laie feststellen, dass Korngold die Motive des Meeres und Piratenlebens weit bildreicher transportiert. Ich vermute, Filmmusik fungiert in diesem Kontext immer auch als Magnet, weil sie schmissig und eingängig ist – und sich das Publikum nicht unter Niveau an ihr erfreut.
Oft bildet sie den Auftakt der Konzertprogramme, dient als mitreißender Auftakt. So war es auch im September, während des hiesigen Musikfests, als Sir Simon Rattle und seine Berliner Philharmoniker die Suite aus Bernhard Herrmanns »Psycho« (A Narrative for Strings) vor Stücken von Arnold Schönberg und Hans Nielsen placierten. Das war eine mutige Geste, die freilich gut in den Zusammenhang der hier zelebrierten Moderne passte. Ich hatte die messerscharfen Streicherglissandi schon bei einer Übertragung im Radio gehört und bemerkt, wie viele Nebentöne und freischwebende Akzente im Film gar nicht auffallen, im Konzert aber besonders zur Geltung kommen. Sie werden universeller. Gute Filmmusik ist immer ein Stück weit reicher, als es ihre Funktion verlangt. Als kurzzeitiger Gast in der Digital Concert Hall wollte ich sie mir daraufhin noch einmal anschauen. Besonders interessierte mich, mit wie viel Körpereinsatz Sir Simon dirigiert.
Er war ein hervorragender Verteidiger des Stückes. Es bedurfte gar keiner übertrieben expressiven Gestik, um das Orchester auf Spur zu bringen. Die enthusiastische Konzentration der Musiker – auf der Bühne befanden sich ausschließlich Streicher - beeindruckte mich. Ihre Spielfreude wirkt ja immer ein wenig opportunistisch, aber auf integre Weise: Bewundernswert, wie sie sich in den Dienst ganz unterschiedlicher musikalischer Ausdrucksformen stellen. Allein schon die Einblendung der Tempi-Angaben (Allegro molto agitato, Lento tranquillo, Molto forzando e feroce usw.) führt vor Augen, wie bewegt und komplex die Komposition ist. Auch meine Schaulust wurde befriedigt. Die Musik funktionierte ohne das Zutun Alfred Hitchcocks. Die Live-Regie reagierte agil und ahnungsvoll. Kaum je gab es eine Totale, die Wahl der Einstellungsgrößen schuf eine treffende, nachgerade klaustrophobische Atmosphäre. Ich war schon lange gespannt darauf, was die Berliner Philharmoniker mit »Psycho« anfangen würden. Im Trailer für ihr Sommerkonzert, der auf 3sat lief, war bereits ein Eindruck von ihrem Elan zu gewinnen. Während des Abends (siehe meinen Blog vom 29.6.) spielten sie das Stück dann doch nicht. Heute (15.10.) wird das Konzert übrigens um 23:30 Uhr auf RBB noch einmal wiederholt. Die erbarmungslose begeisterte Moderatorin wird man sicher nicht herausgeschnitten haben. Aber in der Jahreszeit der Erkältung tut es trotzdem gut, an laue Sommernächte zu denken.
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