Ein Zauber wird Kulturerbe
So höflich sind wohl nur japanische Firmenchefs zu ihren Untergebenen: "Verzeihen Sie, dass ich allen Abteilungen so viel Arbeitet bereitet habe", schrieb Isao Takahata in einem Rundbrief während der Produktion an Die Legende der Prinzessin Kaguya. Und sein Kollege Hayao Miyazaki fügte einer Zeichnung folgende Entschuldigung hinzu: "Sie ist nicht präzise genug, das Gesicht ist zu groß geraten. Vielen Dank, wenn Sie das verbessern."
Diese zwei Dokumente formvollendeter Bescheidenheit gehören zu den kurioseren Exponaten der Ausstellung "Dessins du Studio Ghibli", die rund 1300 Zeichnungen versammelt, die für das vor gut 30 Jahren von Takahata und Miyazaki gegründete Studio angefertigt wurden; zum Teil stammen sie von den beiden Meistern des Animationsfilms selbst. Sie ist noch bis zum 1. März im Museum Art Ludique in Paris zu sehen. Dieser Hinweis kommt natürlich viel zu spät. Ich ärgere mich auch immer, wenn gewisse Zeitungen erst kurz vor Toresschluss über Ausstellungen schreiben. Haben Die Journalisten sie erst so spät besucht oder ist ihnen der praktische Nutzen für ihre Leser gleichgültig? Vielleicht hegen sie auch den Argwohn, dass das Lesen über ein kulturelles Ereignis für Viele bereits ein zufriedenstellender Ersatz für dessen Besuch ist. Gleichviel, diesmal ist es mir auch passiert – immer wieder aufgeschoben und dann mit Schrecken entdeckt, wie die Zeit verrinnt!
Dieses Ärgernis tritt freilich hinter eine weit traurigere Aussicht zurück. Seit einigen Wochen verdichten sich die Anzeichen, dass die Tage der legendären, im Tokioter Vorort Mitaka angesiedelten Animationsschmiede gezählt sein könnten. Im Januar wurde bekannt, dass bereits vor geraumer Zeit ein Sozialplan erstellt wurde für einen Großteil der 150 Angestellten. (Hier differieren die Angaben gewaltig: In einigen Quellen ist von 300 die Rede, in anderen nur von 30 Festangestellten.) Im letzten Sommer machten schon Kassandrarufe die Runde, nachdem Toshio Suzuki, der Geschäftsführer des Studios, in einem Fernsehinterview ankündigte, man wolle eine Denkpause einlegen. Die beiden Gründer hatten seit Längerem angekündigt, sich vom Filmemachen zurückzuziehen (gegen den 80jährigen Takahata ist Miyazaki indes noch ein junger Hüpfer). Miyazakis letzter Film Wie der Wind sich hebt blieb an den Kinokassen weit hinter den Erwartungen zurück und Prinzessin Kaguya war zu teuer, um rentabel zu sein. Omoide no Mânî (When Marnie was there) von Hiromasa Yonebayashi erwies sich beim Start im letzten Juli als ein empfindlicher Misserfolg.
Ohne seine beiden Gründer hat Ghibli keine zugkräftigen Aushängeschilder mehr. Das Einspielergebnis ihrer Filme bestimmte stets über Wohl und Wehe des Studios. Mit dem Ende ihrer Karrieren verliert es seine ökonomische Legitimation. Zwar hat man es nicht versäumt, Nachwuchs heranzuziehen. Yonebayashi etwa ist einer von mehreren Zeichnern, die nach einigen Jahren zu Regisseuren befördert wurden. Den Ruhm ihrer Chefs konnten sie nie auch nur annähernd erreichen. Wie interessant und eigenwillig ihre Arbeiten (beispielsweise Yonebayashis Debüt Arrietty- Die wundersame Welt der Borger) dennoch sind, lässt sich in der Ausstellung am Quai d' Austerlitz erahnen. Sie weiht akribisch in die Techniken des Layouts von Animationsszenen ein und ist für Besucher jeden Alters empfehlenswert. An ihrem Ende kann man ein Foto von sich schießen lassen, das in eine Einstellung aus "Chihiros Reise ins Zauberland" eingefügt wird.
In Paris läuft momentan auch noch Marnie, für den kein Deutschlandstart in Aussicht steht. Ich hoffe, er ist noch zu sehen, wenn ich in ein paar Wochen wieder dorthin reisen will. Ghibli-Filme sind schließlich Dauerbrenner; eine Kindervorstellung lässt sich in der Seinemetropole auch Monate nach dem Start meist noch finden. Aber das würde ein wehmütiger Kinobesuch. Er würde das Ende eines Abenteuers besiegeln, das Kinogänger in aller Welt verzaubert hat. Falls kein mächtiger Zauber das Geschick der Firma mehr zum Besseren wendet, sollen nur noch fünf Angestellte am Standort Mitaka bleiben, die sich um die Verwertung der Rechte kümmern. Das Studio gehört dann endgültig zum Kulturerbe. Das unweit davon beheimatete Museum ist allem Anschein nach ein Publikumsmagnet. Umfragen unter Konsumenten zufolge ist Ghibli noch immer der beliebteste Markenname Japans, weit vor Sony und Toyota.
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