Anpassungsschwierigkeiten

»Carol« (2015)

Es hat sich solche Mühe gegeben, diesmal einen besseren Eindruck zu machen. Es hat die Quote im Wettbewerb beherzt, wenn auch geringfügig erhöht. Mit einer Veranstaltungsreihe will es die Bedeutung der Frauen in Filmkunst und - geschäft würdigen und Bewegung in die Diskussion bringen. Falls dies die alljährliche Kritik an der Unterrepräsentation tatsächlich beschwichtigt haben sollte, ist plötzlich beim Festival wieder Krisenmanagement gefordert.

Seit ein, zwei Tagen wird in Cannes um die Höhe der Absätze gestritten. Anscheinend schreibt das Protokoll für die Festivaltreppe nicht nur festliche Abendgarderobe vor, sondern verordnet weiblichen Gästen auch, diese in High Heels zu erklimmen. Zur Vorstellung von »Carol« wurden einige Damen abgewiesen, deren Absätze zu flach waren. Die Dementis des Festivals sind noch etwas unbestimmt; es wurde von der Empörung wohl nicht nur überrascht, sondern muss sich auch ertappt fühlen. Dazu fiel mir ein toller Ausdruck von Manohla Dargis ein, die in der New York Times einen strengen Blick auf Geschlechterbilder im Kino wirft: In einer Kritik kam sie mal auf die Signalwirkung dieser Accessoires zu sprechen, die sie indigniert als "fuck me heels" titulierte. Es ist nicht bekannt, ob die Schauspielerin Emily Blunt ihre Kritiken liest. Bei der Pressekonferenz zu »Sicario« jedenfalls verlieh sie ihrer Enttäuschung über die Verharrungskraft antiquierter Geschlechterrollen Ausdruck. Es sei wichtig zu begreifen, sagte sie, dass Frauen keine Objekte seien.

Man kann nicht behaupten, dass das Festival bei seiner Eröffnungszeremonie in dieser Hinsicht einen glücklichen Anfang nahm. Zeremonienmeister Lambert Wilson nutzte seine Rede zu einer Hommage an Frauen auf der Leinwand. Er (oder sein Redenschreiber, eine -schreiberin hätte da sicher eine Veränderung der Blickrichtung vorgenommen) fand nur gewundene Worte dafür, welch bedeutende Rolle sie als Femme fatale etc. seit Beginn der Kinogeschichte innehaben. Den Beleg dafür lieferte nicht eine Montage einschlägiger Filmszenen, sondern eine Choreographie von Benjamin Millepied. Die Einlage ließ sich erst einmal prächtig an (die Eröffnungszeremoinie ist auf der Webseite des Festivals abrufbar). Auf der Leinwand lief der, zumindest nach französischer Geschichtsschreibung, erste Film überhaupt, der Arbeiterinnen und Arbeiter beim Verlassen der Lumière-Werke zeigt. Wilson moderierte das gewitzt an, in dem er von den Frémaux-Werken sprach (der Generaldelegierte von Cannes ist auch Leiter des Institut Lumière in Lyon). Indes interpretiert Millepied aber die Musik Bernard Herrmanns zu »Vertigo« neu, die zwar unwiderstehlich ist, aber eben auch den Objektcharakter weiblicher Leindwandfiguren besiegelt. Millepieds Version ist hübsch, besonders triftig fand ich die Passage, in der ein Pas de deux zu dritt getanzt wird. Andererseits wird die Darbietung doch mächtig in den Schatten gestellt von den Filmausschnitten. Wer mochte sich auf die Tänzer konzentrieren, wenn er die überlebensgroß glühenden Blicke sehen konnte, die sich Kim Novak und James Stewart zuwerfen?

Ich frage mich, wie es um den treuen Besuchern der Berliner Volksbühne im Laufe der Ära Frank Castorf ergangen sein mag, der seine Inszenierungen ja auch gern mit Videoszenen aufpäppelt. Wie haben sie auf derlei Ablenkungsmanöver reagiert? Ist ihr Blick nicht auch abgeschweift zu den gefilmten Bildern?

Während in Cannes Halbzeit gefeiert wurde, ging am Sonntag in Berlin eine andere Leistungsschau zu Ende, deren Bilanz ebenso gemischt ausfiel, wie es in Cannes den Anschein hat: das Theatertreffen. Mit seinem Fassbinder-Schwerpunkt warf es die Frage auf, weshalb sich Theaterregisseure heute so stark am Kino orientieren. Die Adaption von Filmen hat sich in den letzten Jahren auf deutschen Spielplänen zu einem veritablen Trend entwickelt. Susan Kennedys Interpretation von »Warum läuft Herr R. Amok?« übersetzt Fassbinders Prinzip des gleichsam ferngesteuerten Schauspielers für das Theater; zum Treffen war überdies eine Version von »Das Fest« eingeladen. Auch Filme wie »I hired a contract killer« führen hier zu Lande ein ersprießliches Bühnenleben.

Woher kommt diese Mode des Adaptionstheaters? Liegt es daran, dass die Titel dem Publikum bereits bekannt sind und somit für volle Häuser sorgen könnten? Oder ist die hiesige Klage berechtigt, es fehle an starken, originären Gegenwartsstücken? Andererseits hat das Theater ja alles Recht, auch einmal zurückzuschlagen, nachdem das Kino seit von Anfang an zahllose Bühnenvorlagen vereinnahmt hat.

Der Trend ist übrigens nicht auf Deutschland beschränkt. In Paris liefen vor kurzem »Vier Minuten« nach Chris Kraus und »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« nach Fassbinder; vor einigen Jahren inszenierte Patrice Leconte eine verblüffend besetzte (Jacques Gamblin in der Rolle von Fabrice Luchini) Adaption seines Kammerspiels »Intime Fremde«. Im anglo-amerikanischen Theater wiederum stehen Adaptionen von Filmmusicals momentan hoch im Kurs. Im Londoner West End wurde unlängst eine Version von Cole Porters »High Society« aufgeführt. Am Broadway laufen gerade Bühnenfassungen von »Gigi« und »Ein Amerikaner in Paris«, die allerdings für das moderne Publikum manchen Kulturschock bereithalten, denn die Geschlechterbilder der 50er Jahre stellen große Herausforderungen an eine politisch korrekte Gesinnung. Kann man heute noch "Thank Heaven for little Girls" singen, ohne den Verdacht der Pädophilie auf sich zu ziehen? Die New Yorker Inszenierung versucht offenbar, das Problem dadurch zu umgehen, dass die Nummer von einer Frau gesungen wird.

Diese Stoffauswahl ist in etwa so originell wie die Franchise- und Remake-Mentalität in Hollywood. Angesichts der immensen Kosten von Broadway-Produktionen beweist das natürlich ökonomisches Verantwortungsbewusstsein. Allerdings finden in den USA mitunter auch ganz entlegene, verstiegene Vorlagen ihren Weg auf die Bühne. Vor kurzem las ich über eine Opernadaption von Mario Bavas Sandalenfilm »Vampire gegen Herakles«. Die Neuvertonung des Komponisten Patrick Morganelli hatte vor einigen Jahren an der Oper von Oregon Premiere und kam im April in überarbeiteter Orchestrierung in Los Angeles erneut zur Aufführung. Nun sind der Oper mythische Stoffe ja nicht fremd. Bavas Film ist in der Tat vage an Euripides angelehnt. Herkules (verkörpert vom "Mr. Universum" 1951, Reg Park) muss in den Hades hinabsteigen, um seine Geliebte und sein Volk mit Muskelkraft und Einfallsreichtum von einem bösen Fluch zu befreien. Unschuldigen Operngängern stehen allerdings einige Überraschungen ins Haus.

Bei Morganellis Version handelt es sich nicht um eine szenische Adaption – der Film läuft auf einer Leinwand über der Bühne, während Sänger und Musiker sich bemühen, synchron zu bleiben. »Hercules vs. Vampires« muss ein bizarres Seh- und Hörerlebnis sein, das der Komponist zweifellos mit postmoderner Ironie in Angriff nahm. Die Trailer, die auf Youtube zu finden sind, stellen ein schenkelklopfendes Camp-Vergnügen (nebst Popcorn und Kostümparty) in Aussicht. Der Idealist in mir hofft natürlich, dass sich unter den Zuschauern nicht nur blasierte Kunstbanausen befanden, sondern auch aufrechte Bewunderer des Sandalen-Genres. Allerdings ist auf dem Kanal eine Aufnahme von der öffentlichen Probe zu sehen, bei der sich das Publikum prächtig über die Pappmaché-Dekors amüsiert. Wenn die erst wüssten, dass der giftige Sumpf, den der Held überwinden muss, aus Polenta und Sägespänen gekocht wurde! Zudem gibt es einen zweiminütigen Szenenausschnitt, der einen Eindruck von der Anmutung dieser exzentrischen Unternehmung vermittelt. Es klafft ein ziemlicher Abgrund zwischen dem ausdrucksarmen Mienenspiel der Darsteller und der Inbrunst der Gesangsstimmen. Ob dieser Verfremdungseffekt über die Filmlänge von 74 Minuten hinweg funktioniert, ist der Frage würdig. Ich nehme aber mal an, das Experiment wird dem Ruhm Bavas letztlich wenig anhaben. Fassbinder hat schließlich auch jede Anverwandlung durch die Bühne schadlos überstanden.

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