Zensur! Zensur?
Auf den Tag genau heute vor einem Jahr feierte A Touch of Sin in Cannes Premiere. Am Ende des Festivals gewann Jia Zhang-ke den Preis für das Beste Drehbuch und die chinesische Regierung sonnte sich in diesem Erfolg. Nicht wenige Beobachter waren damals erstaunt, dass sein Film, der die Verrohung der chinesischen Gesellschaft ungekannt drastisch vor Augen führt, überhaupt für das Festival eingereicht werden konnte.
Tatsächlich hatte die Zensurbehörde nur punktuelle Einwände gegen das Drehbuch erhoben; bei der Abnahme des fertigen Films bestand sie darauf, einige Gewaltszenen abzumildern. Seit etwa zehn Jahren sei sie gesprächsbereiter und offener geworden, betonte der Regisseur im letzten Frühjahr. Zu diesem Zeitpunkt sah es noch so aus, als stünde die Gesellschaftskritik seines Films im Einklang mit der Anti-Korruptionskampagne von Staatspräsident Xi Jinping, die diese als lokales Phänomen betrachtet und bekämpft. Der Kinostart in China war für den 9. November 2013 geplant. Die Launen der Zensur sind dort freilich unberechenbar. Am 24. Oktober untersagte das Propagandaministerium den Medien jedwede Berichterstattung über den Film.
Als er im Januar in Deutschland herauskam, versuchte ich zu recherchieren, ob er wenigstens einen Alibistart in China hatte. Erst im März wurde klar, dass A Touch of Sin zwar in Bosnien-Herzegowina, Island, Polen, Südkorea, Taiwan und zahlreichen anderen Ländern zu sehen war, nicht jedoch in seiner Heimat. Zu diesem Zeitpunkt stand die Veröffentlichung der DVD in den USA bevor. Jia Zhang-ke, der sich selbst bis dahin Schweigen über die Affäre auferlegt hatte, fürchtete nun, der chinesische Markt würde von Raubkopien überschwemmt. Er kündigte sogar an, mit seiner eigenen Produktionsfirma für die Verluste geradezustehen, die seinen ausländischen Co-Produzenten, darunter Takeshi Kitano, dadurch entstehen. Ein solches Verantwortungsgefühl dürfte einmalig sein in der Filmgeschichte. Die Hoffnung, „A Touch of Sin“ könne eines Tages in chinesische Kinos kommen, hat er dennoch nicht aufgegeben.
Am heutigen Samstag hat ein Film an der Croisette Premiere, der sich für seine Produzenten als ein ebenfalls riskantes, wenngleich wohl nicht ruinöses Vorhaben erweisen könnte. Welcome to New York, Abel Ferraras Schlüsselfilm über die Affäre um Dominique Strauss-Kahn läuft zwar nicht im offiziellen Festival-Programm. Er wird gleichsam als parasitäres Ereignis vorgeführt, schlägt aber dennoch hohe Wellen in den Medien. Als vor einem Monat das Wettbewerbsprogramm bekannt gegeben wurde und Ferraras Film darin nicht auftauchte, trat sein Produzent Vincent Maraval die Flucht nach vorn an: Er werde trotzdem ein Kino in der Rue d' Antibes anmieten und ihn am gleichen Tag als Video on Demand herausbringen. In Interviews mit französischen Tageszeitungen gab er sich zuversichtlich, dass ein Film, der so große öffentliche Aufmerksamkeit erregt, auch auf diesem Vertriebsweg profitabel sein kann.
Der Start im Internet wird ihn rund eine Million Euro kosten. Die Präsenz auf Plattformen wie iTunes, Orange und Free, die täglich gut 20 Millionen Besucher verzeichnen, werde sich aber bestimmt rechnen, versicherte er. Ferraras vorangegangener Film, 4:44 Last Day on Earth habe in Frankreich nur 20000 Kinogänger erreicht, sei auf Youtube jedoch von drei Millionen Besuchern gesehen worden. Damit unterläuft Maraval womöglich zwar kein Rechenfehler, verschätzen kann er sich dennoch gewaltig. Schließlich sind Filme auf Youtube kostenlos zugänglich. Wer jedoch ab heute Welcome to New York in Frankreich und anderen Territorien sehen will, muss sieben Euro dafür bezahlen. Es wird also spannend, mitzuverfolgen, ob nach Abklingen des Medienhype tatsächlich ein tragfähiges Publikumsinteresse besteht. Die Kritiken in amerikanischen Branchenblättern sind überaus positiv und Regisseure wie Gaspar Noe und Milos Forman äußern sich vorab schon begeistert über die Leistungen von Gérard Depardieu und Jacqueline Bisset in den Hauptrollen.
Natürlich ist die Ablehnung des Festivals für Maraval schmachvoll. Nachdem die neuen Filme von Paul Thomas Anderson und Alejandro Gonzalez Inarritu von ihren Studios kurzfristig zurückgezogen wurden – obwohl beide im Vorfeld hoch gehandelt wurden, fanden Warner Bros. und Fox es dann doch nicht der Mühe wert, sie in Cannes zu platzieren und erhoffen sich von Startterminen im Herbst größere Oscar-Chancen – wäre ein Nachrücken Ferraras durchaus noch denkbar gewesen. Aber Auswahlkomitee und Festivalleitung blieben bei ihrer Entscheidung. Maraval geißelt nun den Druck, der in Frankreich gegen den Film ausgeübt wird. Isabelle Adjani, die zunächst die weibliche Hauptrolle spielen sollte, zog sich aus ungeklärten Gründen aus dem Projekt zurück. Es musste vollständig mit amerikanischem Geld finanziert werden; keiner der mächtigen französischen TV-Sender zeigte Interesse. Man muss kein Freund von Verschwörungstheorien sein, um Maraval beizupflichten, wenn er von einer inzestuösen Verstrickung der Eliten aus Politik und Medienwelt spricht. Sie existiert in einer aristokratisch strukturierten Gesellschaft wie der französischen zweifellos: Die Ehe zwischen DSK, dem ehemaligen Hoffnungsträger der Sozialisten und der berühmten Fernsehjournalistin Anne Sinclair ist ein prominenter Beleg dafür. Ob beide nun ihren nach wie vor großen Einfluss geltend gemacht haben, um einen Kinostart zu verhindern, darf man bezweifeln. Nach französischem (im Gegensatz zu US-amerikanischem) Recht darf ein Film nicht gleichzeitig im Kino und im Internet herausgebracht werden. Dafür sorgt der begrüßenswerte französische Protektionismus, der heimischen Kinos eine behagliche Schonfrist vor der Auswertung auf DVD, Blu-ray und im Fernsehen gewährt. Geschickterweise hat Maraval, Produzent des letztjährigen Palmengewinners Blau ist eine warme Farbe, es vermieden, Festivalleiter Thierry Frémaux explizit vorzuwerfen, sich einer Zensur zu beugen. Im nächsten Jahr ist er vielleicht wieder auf dessen Wohlwollen angewiesen.
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