Runter vom Sockel!
Für deutsche Intellektuelle und Filmemacher einer bestimmten Generation ist er nach wie vor eine Galionsfigur. Ihnen erschien er als Vordenker, dem sie bereitwillig folgten und heute noch unbeirrt die Treue halten; schon aus Gewohnheit und Mangel an Alternativen (oder doch eher Neugierde?). Derlei inbrünstige Verehrung ist keine exklusiv deutsche Verirrung. Das Vergnügen, mit dem ich Richard Brodys Blog „The Front Row“ im „New Yorker“ lese, wird mir regelmäßig vergällt durch dessen Manie, in mindestens jedem zweiten Eintrag zwanghaft seinen Säulenheiligen ins Spiel zu bringen. Ich hingegen möchte mich rühmen, ihm niemals auf den Leim gegangen zu sein.
Falls Sie nicht schon ahnen, um wen es geht, will ich sie nicht länger auf die Folter spannen: Jean-Luc Godard. Er macht ja aktuell wieder eine Menge Aufhebens um sich. Auch in deutschen Feuilletons herrscht Erklärungsbedarf, nachdem er im Interview mit „Le Monde“ behauptete, er habe den Wahlsieg des Front National herbei gewünscht. Was ist davon zu halten? Im Kern ist er vermutlich ebenso wenig ein Parteigänger Marine Le Pens, wie ihn der Vorwurf des Antisemitismus trifft, der vor ein paar Jahren gegen ihn erhoben wurde. Er provoziert nur gern. Er kann dem Impuls nicht widerstehen, sich ins Gespräch bringen. Womöglich ahnt er, dass seine Ansichten nicht mehr ganz so viel Gewicht haben. Nur die Aufmerksamkeit ist ihnen noch gewiss. Im Interview wird er auch auf den Preis angesprochen, den er sich in Cannes offenkundig nur höchst widerwillig mit Xavier Dolan teilen musste. Man habe damit den jungen Film eines alten Regisseurs ausgezeichnet und den altmodischen Film eines jungen Regisseurs. Ich bin sicher, dass er Dolans „Mommy“ gar nicht gesehen. Er hielt es ja nicht mal für nötig, aufs Festival zu kommen und gab statt dessen lieber Interviews im französischen Rundfunk.
In einer solchen Äußerung steckt für mich der ganze Godard: seine selbstgefällige Verächtlichkeit und abgrundtiefe Missgunst. Mein Zorn auf ihn entzündet sich vor allem an der öffentlichen Figur, als die er sich in Szene setzt. Seine Kapriolen, seine sich unangreifbar wähnende Lust an Provokation und Widersprüchen bin ich schon lange müde. „Adieu au language“ hat er sein jüngstes Werk getauft. Einen verlogeneren Titel für einen Godard-Film kann ich mir nicht vorstellen. Würde dieser Mann sich von der Sprache verabschieden, zöge er sich den Boden unter den Füßen weg. Sein Mythos gründet darauf, wie smart er sich ihrer bedient. 1968 mochte sein Wortgeklingel noch den Zeitgeist beflügelt haben, seither kaschiert es geschickt, dass es nur noch eitle, mechanische Sophisterei ist. Für eine Haltung steht der Godard der letzten Jahrzehnte nicht mehr, nurmehr für Attitüden.
Gegen seine Filme habe ich hingegen gar nicht so viel einzuwenden. „Außer Atem“ leistete prächtige Schrittmacherdienste zur Entwicklung einer neuen Filmsprache. „Die Verachtung“ ist ein Kabinettstück filmischer Sinnlichkeit. „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“ ist ein so toller Titel, als hätte ihn Pialat oder Fassbinder erfunden. „Nouvelle Vague“ hat seine Vorzüge: bewundernswert, wie er den sublimen Narziss Alain Delon dazu bringt, gegenüber einer jungen Frau zu sagen „Je fais pitié“ (was ich immer mit „Ich mache einen jämmerlichen Eindruck“ übersetzt und als Selbstbezichtigung des Regisseurs verstanden habe). Angesichts einer solchen Filmographie sollte man nicht kleinlich sein. Aber manchmal wurmt es mich doch, dass ich noch immer um Gegenargumente verlegen bin, seit mir mein Freund, der französische Filmhistoriker Jean-Pierre Jeancolas einmal den Unterschied zwischen Godard und Truffaut erläutern wollte: der Erste besäße eine eigene écriture, eine genuin filmische Filmsprache, der Zweite nicht.
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