Die Welt von Gestern
Wenn gewisse Kritiker einem Film ein linkshändiges Lob aussprechen wollen, wählen sie dafür gern den Auftakt: "Er erfindet zwar das Kino nicht neu, aber...". Natürlich gehört es zu den Anforderungen dieses Berufs, die Vorhut zu bilden: Wir müssen Kunde geben von dem Neuen. Dennoch scheint mir dieser Vorbehalt ein wenig träge. Er ist ein Passepartout, mit dem man selten falsch liegt.
Tatsächlich hat sich in unseren Köpfen der Gedanke festgesetzt, es sei die Pflicht und Schuldigkeit jedes Films, tatkräftig an der Weiterentwicklung des Mediums zu wirken. Dieser Fortschrittsgedanke ist ein nicht nur vager, sondern ziemlich resoluter Imperativ. Kann aber im Gegenzug ein Film das Kino auch zurückwerfen? Ein sehr kluger Bekannter ist davon überzeugt. Zumindest äußerte er vor Jahren einmal die Ansicht, A Beautiful Mind von Ron Howard würde das Hollywoodkino gleich um etliche Jahrzehnte zurückwerfen. Worin dieser Rückschritt genau bestehen soll, war mir damals nicht ganz klar (er hegte gewiss nicht die gleichen Einwände gegen den Film wie ich), aber ich versäumte es, nachzuhaken. Das war vielleicht gut so, denn oft ist eine offene Frage interessanter als die Antwort.
Der letzte Eintrag dieses Jahres soll einen Film gewidmet sein, der das Kino in der Tat nicht voranbringt. An ihm ist rein gar nichts avantgardistisch oder zukunftstrunken. Er kommt etliche Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte zu spät. Er war sozusagen schon da, bevor er gedreht wurde. Aber seine Aura des Althergebrachten trägt er mit beträchtlichem Selbstbewusstsein. Er weiß, dass die Zeit längst über ihn hinweggegangen ist (was allerdings auch sein Thema ist). Mit anderen Worten: Er hat mir großes Vergnügen bereitet.
Es handelt sich um A Promise, den jüngsten Film von Patrice Leconte, der in Deutschland gar nicht erst herauskam und den ich auf einer englischen DVD gesehen habe. Um Leconte ist es in den letzten Jahren reichlich still geworden. Vor einiger Zeit kündigte er an, sich vom Kino zurückziehen zu wollen (mit gerade 60 Jahren), hielt dann aber glücklicherweise nicht Wort. Seither hat er seinen ersten Zeichentrickfilm gedreht und nun seinen ersten Film in englischer Sprache. Mithin lauter Aufbrüche, die jedoch zugleich zielstrebig in seine Vergangenheit (er hat als Comiczeichner begonnen) zurückblenden. A Promise ist das, was man früher Europudding nannte: eine französische Produktion, die mit englischen Darstellern in Belgien gedreht wurde und auf der Vorlage eines deutschsprachigen Schriftstellers beruht, "Reise in die Vergangenheit" von Stefan Zweig. An diesem Punkt gerät Leconte natürlich noch zusätzlich ins Hintertreffen, da zu Beginn des Jahres Wes Anderson diesem Autor mit The Grand Budapest Hotel eine fulminante Hommage erwiesen hat. Ein ganz so elektrisierender, verspielter Schwanengesang auf eine untergegangene Zivilisation ist A Promise selbstredend nicht. Er ist eine klassische Literaturadaption, die sich allerdings beträchtliche Freiheiten nimmt.
Die im Nachlass des Autors gefundene Novelle löste bei ihrem Erscheinen in Frankreich vor einiger Zeit eine unverhoffte Zweig-Renaissance aus. Adaptionen seiner Werke haben dort im Fernsehen eine lange, gediegene Tradition. Ein vorhersehbarer Vorwurf, den Lecontes Film auf sich zog, geht genau in diese Richtung: Hat man so etwas nicht schon oft genug auf dem kleinen Bildschirm gesehen? Er ist nur zum Teil gerechtfertigt. In Zweig hat der gewiefte Nostalgiker Leconte einen Seelenverwandten gefunden. Dessen Sprache ist preziös, sie macht Umstände, wie ich wieder feststellen konnte, als ich die Novelle über die Feiertage las. Sein Duktus rang elegant mit den Umbrüchen seiner Zeit, namentlich den Erschütterungen, die Freuds Erkenntnisse über die menschliche Natur darstellten. In "Reise in die Vergangenheit" treffen sich zwei Liebende nach vielen Jahren wieder, um ein Versprechen einzulösen: das der Hingabe, der Vereinigung, die bei ihrer ersten Begegnung nicht möglich war, da sie verheiratet war und überdies die Zeitläufte – der Ausbruch des Ersten Weltkrieg – die Erfüllung ihres Begehrens vereitelten. Zweigs Novelle ist als Rückblende erzählt, bei Leconte ist deren Rahmenhandlung indes ein Epilog. Das unwiderrufliche Vergehen der Zeit hat bei ihm ein anderes Gewicht; der Zuschauer erlebt es als szenische Gegenwart. Die Handlung setzt 1912 ein. Ein junger Ingenieur (Richard Madden) findet eine Anstellung in einem Stahlwerk, dessen alternder Inhaber (Alan Rickman) ihn alsbald so sehr schätzt, dass er ihn als Privatsekretär in sein Haus holt. Dort verliebt er sich in dessen jüngere Frau (Rebecca Hall). Ihre gegenseitigen Gefühle können sie sich erst gestehen, als der junge Mann nach Mexiko abberufen wird, um dort den Erzabbau in einer Mine zu überwachen. Bald darauf bricht der Krieg aus, der ihrem Briefverkehr ein abruptes Ende setzt. Als er heimkehrt, ist eine neue Zeit angebrochen: Bei einer Parade von Kriegsveteranen marschieren bereits die Braunhemden der SA mit.
A Promise ist kein so prächtiges Zusammentreffen zwischen Regietemperament und Kostümfilm, wie es sich bei Martin Scorseses Verfilmung von Edith Whartons "Zeit der Unschuld" ereignete. Beide Filmemacher vereint jedoch die Empfindsamkeit für Gefühle, die den Konventionen ihrer Epoche zuwiderlaufen. Die verlorene Unschuld, die Beide suchen, ist eine der Darstellung: Die Liebe darf sich nur in zarten, verborgenen Gesten zeigen, die umso kostbarer wirken. Leconte nimmt all das zurück, was dem Kino heute an Anschaulichkeit zugewachsen ist. Es braucht lange, bis es zur ersten, verstohlenen Berührung kommt. Welch schüchtern verschlungenen Wege sich die Sehnsucht bahnt, wie sie alles zum Fetisch werden lässt, was die Geliebte berührt oder an dem sie ihre Duftmarken hinterlassen hat, gehört ja seit Die Verlobung des Monsieur Hire zur Folklore von Lecontes Kino. Es hat die einstige Frische verloren, aber hat auch hier noch Poesie. Bei Zweig ist der Ehemann eine Nebenfigur, Leconte hingegen gibt ihr viel Raum, den Rickman wunderbar füllt. Er wird nachgerade zum Mentor der unerfüllten Liebe, ein wohlmeinender Intrigant. Dass Lecontes Co-Autor Jerôme Tonnerre einst Drehbücher für Claude Sautet geschrieben hat, ist deutlich zu spüren. Überhaupt hat er sich mit einem hervorragenden Team umgeben. Dekors, Kostüme und die Tonspur sind fein orchestriert, Garbiel Yareds Musik verweist, zumal in den Szenen im Stahlwerk, auf Maurice Jarrers Partitur zu Viscontis "Die Verdammten". Die Lichtsetzung und Kameraführung Eduardo Serras sind fein ziseliert. Immer wieder justiert sie den Fokus neu, mit einer feinnervigen Agilität, die in Vor-Dogma-Zeiten gewiss wagemutig und zukunftsträchtig gewirkt hätte. Darüber ist die Filmgeschichte mittlerweile ja auch gnädig hinweggegangen. Die Kunstfertigkeit, mit der A Promise erzählt ist, mag unzeitgemäß und angestaubt wirken, vergeblich ist sie nicht.
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