Con artists
Am gestrigen Sonntag ging im kalifornischen San Diego die diesjährige Comic Con zu Ende. Das ist eine Veranstaltung, die ich nie besucht habe, die aber seit einiger Zeit meine Phantasie beschäftigt und mich bisweilen zu kulturpessimistischen Spekulationen verleitet.
Es gibt sie schon seit 1970. Jahrzehnte lang war sie vermutlich nur eine von vielen Comic-Messen in den USA, bis sie zu Beginn dieses Jahrtausends zu einem Branchentreff mit globaler Ausstrahlung wurde. Die Besucherzahlen stiegen von anfangs 300 auf zuletzt 150000. Das geschah zweifelsohne im Schlepptau des kolossalen Erfolgs, den Comic-Verfilmungen seit Sam Raimis Spider Man feiern (zuvor waren das ja eher singuläre Phänomene, auch wenn "Superman" seit den 70ern und "Batman" ein Jahrzehnt später in Serie gingen). Das ging anscheinend geisterhaft schnell. Die Nerds aus »The Big Bang Theory«, deren Sachverstand in derlei Fragen man unbedingtes Vertrauen schenken darf, boykottieren sie als aufrechte Puristen, seit sich Hollywood dort breit gemacht hat. Seither ziehen sie die Comic Con in Anaheim vor.
Diese Vereinnahmung und Metamorphose besitzt in mehrfacher Hinsicht Symbolkraft. Zum einen spiegelt sich darin die Ursituation jedes Superhelden-Comics. Zugleich müssen Verlage wie Marvel und DC angesichts der Durchschlagskraft der von ihnen mitproduzierten Adaption neuerdings händeringend wieder ihr Kerngeschäft ins Bewusstsein rufen, im dem sie ihren traditionellen Helden eine spektakulär zeitgenössische Identität verleihen: Thor wird demnächst durch eine Frau ersetzt, nachdem afro-amerikanische und muslimische Helden und Heldinnen ihren Dienst bereits angetreten haben. Während ein Comic-Fan früher unter einem panel eine Tafel mit Zeichnungen verstand, hat die Vokabel nun eine ganz andere Bedeutung gewonnen: Scharenweise strömen die Fans zu den Podien, auf denen Stars und Regisseure ihre neuen Projekte anpreisen.
Seit dieser wohl nicht nur freundlichen Übernahme der Veranstaltung durch die Hollywood-Majors dominiert die Berichterstattung darüber naturgemäß die IMDb und mittlerweile auch den Filmteil von Tageszeitungen im anglo-amerikanischen Raum. Im britischen Independent war tagelang kaum was anderes zu lesen, der Guardian hat dem Ereignis in diesem Jahr sage und schreibe 32 Artikel gewidmet. In den von der IMDb verlinkten Berichten verschwimmt die Grenze zwischen Journalismus und Fan-Tum zusehends: Während es früher ein Zeichen von Verlegenheit und Phantasiemangel war, Künstler beim Interview nach ihren nächsten Projekten zu fragen, wird heute über nichts anderes mehr gesprochen. Die Serien und Filme, die in San Diego präsentiert werden, sind noch längst nicht fertig, vielmehr machen dem Publikum Appetithäppchen den Mund. In San Diego wird zwar nicht darüber entschieden, was demnächst in unsere Kinos kommt, aber es wird abgesegnet. Allerdings frage ich mich angesichts der ganzen Aufregung um die Neubesetzung des Regisseurs von Ant-Man, ob es tatsächlich so viele Zuschauer gibt, die einem Film über einen Ameisenmenschen entgegenfiebern.
Man kann den Eindruck gewinnen, an diesem verlängerten Juli-Wochenende gilt die Gegenwart nichts und die Zukunft alles. Im Gegenzug hat allenfalls noch die Nostalgie ein Existenzrecht in den Hallen des San Diego Convention Center: Man denke nur an die ausrangierte Besatzung der Enterprise oder Gestalten wie alten TV-Batman Adam West, die hier ein Gnadenbrot fristen dürfen, in dem sie Autogramme geben.
Mit dem Preview, das ein paar Tage vor dem großen Rummel stattfindet, hat die Comic Con eine weitere Konvention aus dem Filmgeschäft übernommen. Da passierte in diesem Jahr jedoch etwas, das meine Neugierde weckte. Marvel stellte die concept art zu der nächsten Folge der Avengers vor. Mit dem Begriff concept art bin ich erst seit einigen Wochen vertraut, als ich in dem Pariser Museum "Art Ludique" eine große Ausstellung besuchte, die Marvel-Superhelden gewidmet ist (und noch bis Ende August läuft). Das ist eine faszinierende Form des Marketing, die dessen klassischen Rahmen oft allein schon wegen ihrer großen Formate sprengt. Womöglich ist sie nicht nur für Multiplex-Kinos, sonder eben genau für solche Plattformen wie die Comic Con gedacht. Das spektakulärste Motiv für Marvel's Avengers: Age of Ultron zeigt die Superhelden-Liga in einem wirren Kampfgetümmel. Es stammt von gleich drei Künstlern, Ryan Meinerding, Charlie Wen und Andy Park.
Meinerdings Arbeiten fielen mir schon in Paris ins Auge. Es ist schwer, sie einzuordnen. Sie sind graphische Vorstufen zu Filmen; mitunter dienen sie als Plakatmotive. Einige von ihnen sind Sequenz-Studien, ohne jedoch die Funktion klasssischer Storyboards zu erfüllen. Ihre Kunst besteht in der Synthese. Sie bewegen sich gleichsam in einem Bereich zwischen den panels eines Comic und einer Filmszene; mit ihrer hyperrealistischen Anmutung scheinen sie aber bereits vollends dem zweiten Medium anzugehören. Die Darsteller sind, sofern die Besetzung bereits feststeht, unzweifelhaft zu erkennen. Vornehmlich zeigen Meinerdings Arbeiten die Charaktere in ikonenhaften Posen, heroisch aufgerichtet oder im erbitterten Kampf mit Widersachern. Neuerdings muss er jedoch immer häufiger Gruppenporträts entwerfen.
Der Zeichner hat einen Abschluss in Industriedesign. Seine Arbeiten entstehen im Computer, bisweilen erinnern sie indes noch an die photorealistischen Acrylmalereien des großen Alex Ross, der den Superhelden von Marvel und DC in den 90er Jahren ein neues Antlitz verlieh. Wenn Sie Meinerdings Namen einmal in eine Suchmaschine eingeben, werden Sie einen Eindruck von seinem martialischen Stil gewinnen. Ich weiß nicht, ob er von den Studios tatsächlich schon fertige Drehbücher bekommt. Muss er vielleicht nicht: Seine Kunst liegt in der Vorausahnung des Vertrauten.
In Paris dominieren seine digitalen Gemälde jeden Raum, in dem sie ausgestellt sind. Neben Requisiten wie Iron Mans Helm und Captain Americas reichlich lädiertem Schild sind sie der Blickfang der Schau. Die panels klassischer Marvel-Zeichner wie Jack Kirby, Steve Ditko, Jim Steranko oder John Romita (senior und junior) nehmen sich dagegen eher schmächtig und unspektakulär aus. Das Interesse der weitgehend jungen Besucher wecken sie nur sporadisch. Fürwahr, das Kerngeschäft gerät ins Hintertreffen.
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