Mubi: Ira Sachs – Die frühen Jahre
»Forty Shades of Blue« (2005). © Verleih
»Just be myself. No Problem.« Sie hat sich gerade aufs Bett gelegt, weil ihr die Füße wehtun, von den Plastikschuhen, wie sie sagt. Die Identität dieser Frau ohne Namen ist ebenso wenig festzumachen wie die des Films selbst. Wer ist dieses Selbst, wenn eine lesbische Frau einen schwulen Mann spielt, der eine heterosexuelle TV-Schauspielerin aus den 1970ern verkörpert? Und ist »Lady« ein Dokumentarfilm oder dessen Making-of oder ein Spielfilm, der sich als Doku ausgibt und dabei Homevideo- und Seifenoper-Ästhetiken mit Cinéma vérité mischt? In den Credits wird die Undergroundkünstlerin Dominique Dibbell genannt, doch womöglich ist die Frau mit der roten Perücke und dem drastischen Make-up mehr als eine Performance. Welchen Unterschied würde es machen?
»Lady« von 1993 ist die zweite Regiearbeit des US-Filmemachers Ira Sachs, ein 28 Minuten kurzes Spiel um Identitäten und sexuelle Zuschreibungen und die hohe Kunst des Camp. Und mit Sachs' Stimme als Mann hinter der Kamera als weiterer Ebene.
Der Kurzfilm ist die Entdeckung innerhalb einer kleinen Hommage mit frühen Filmen, die Mubi dem 58-jährigen Sachs derzeit widmet. Darin sind bereits viele der Themen, stilistischen Mittel und Inszenierungsstrategien angelegt, die seine bekannten Filme »Keep the Lights On« (2012) und zuletzt »Passages« (2023) prägen.
Sehr schön lässt sich diese Entwicklung bereits an seinem Langfilmdebüt »The Delta« nachvollziehen, entstanden drei Jahre nach »Lady«. Darin erzählt Sachs von Lincoln (Shayne Gray), einem 18-Jährigen aus einer wohlhabenden weißen Familie in Memphis, der seiner Freundin verheimlicht, dass er auf Rastplätzen und anderswo regelmäßig anonymen Sex mit Männern hat. Als er im Pornokino den Immigranten Minh Ngyuyen (Thang Chan) trifft, lädt er ihn spontan auf das kleine Boot seines Vaters ein, mit dem sie das Mississippi-Delta hinunterfahren. Ein Trip, der nicht gut ausgeht, weil ihre kurze leidenschaftliche Romanze an zu vielen Widerständen scheitert. Sachs inszeniert dieses Ausloten sexueller, sozialer und kultureller Identitäten mit Laiendarstellern, autobiografischen Bezügen und roher, emotionaler Intimität in grobkörnigen 16-mm-Bildern. Die Low-Budget-Produktion des damals 30-jährigen Autodidakten ist von John Cassavetes ebenso geprägt wie vom europäischen Autorenkino und queeren Regisseuren wie Pasolini und Fassbinder. Und hat auch nach 28 Jahren nichts von seiner faszinierenden Direktheit eingebüßt.
Sachs, der seit 1988 in New York lebt, siedelte den Film in seiner Geburtsstadt Memphis an, ebenso wie den Nachfolger, »Forty Shades of Blue« acht Jahre später, der 2005 in Sundance den »Großen Preis der Jury« bekam. Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte und den Filmen Ken Loachs und Satyajit Rays, rückt Sachs hier eine junge Russin in den Mittelpunkt, Laura (Dina Kurzin), die dem deutlich älteren Soulmusiker James (Rip Torn) von Moskau in die USA folgte, wo sie sich nun, in einer unglücklichen Ehe gefangen, um das gemeinsame Kind kümmert. Als der erwachsene Sohn aus James' früherer Ehe auftaucht, entwickelt sich zwischen Alan (Darren Burrows) und Laura eine Affäre, der man lange beim Scheitern zusieht, die bei allem Schmerz und aller Verzweiflung aber doch zu einer Art Erwachen führt. Das inszeniert Sachs als prekäres Liebesdrama mit großer Sensibilität und vielen Zwischentönen, in dem er Memphis und dessen Musikszene als weiteren Charakter zu nutzen weiß. Auch hier sind die Parallelen zu Sachs' bislang letztem Film »Passages« und dessen Dreiecksgeschichte um einen deutschen Regisseur Tomas (Franz Rogowski) zwischen britischem Ehemann Martin (Ben Wishaw) und der Affäre mit der Französin Agathe (Adèle Exarchopoulos) unverkennbar. Auch der lässt sich auf Mubi weiterhin (wieder) sehen.
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