arte-Mediathek: »Hafen ohne Gnade«
© arte/Alexandra Fleurantin/Ego Productions
Pierre Leprieur, Hafenarbeiter und alter Gewerkschaftshaudegen, kehrt spätabends heim. Die Haustür ist unverschlossen, die Wohnung liegt im Dunkeln. Pierre wird stutzig, greift wehrbereit zu seinem Schauerhaken. Das Licht geht an, großes Hallo – willkommen zur Geburtstagsparty. Pierre atmet auf. Doch sein Argwohn war keineswegs unbegründet. Im Hafen von Le Havre, seinem Wirkungsfeld, floriert der Drogenschmuggel, und eine Gruppe von Pierres Kollegen ist daran beteiligt. Pierre kämpft gegen das Verbrechen und hat sie sich zu Feinden gemacht. Und nicht nur die. Aber das erfährt die Zuschauerschaft erst im weiteren Verlauf der sechsteiligen Serie, einer Arte-Eigenproduktion.
In der Auftaktfolge wird Pierre als Hauptfigur etabliert und fungiert als Offerzähler. Doch am Ende der Episode ist er tot. Die Serienschöpfer Maxime Crupaux und Baptiste Fillon nebst ihren Co-Autorinnen Sylvie Chanteux und Malysone Bovorasmy zeigen im Umgang mit den Charakteren kein Pardon. Niemand kommt hier unbeschädigt raus. Pierres gewaltsamer Tod hat nachhaltige, zunächst nicht absehbare Folgen für seine Söhne, die Tochter, die Witwe Laurence.
Simon ist der Jüngste und das schwarze Schaf der Familie. Gerade wurde er nach einer nächtlichen Raserei festgenommen. Er saß nicht am Steuer, aber im Wagen ist Kokain versteckt. Was wiederum die polizeiliche Aufmerksamkeit auf Simons Bruder lenkt. Aus dessen Autohandel wurde der Flitzer entliehen. Heißsporn Jean importiert US-amerikanische Fahrzeuge, die möglicherweise für den Drogenschmuggel genutzt werden. Mit seinem Wissen oder ohne? Ihre Schwester Emma hat sich aus diesen Verstrickungen gelöst und arbeitet in Paris als Anwältin. Zum 60. Geburtstag ihres Vaters war sie heimgekehrt. Sie muss bleiben, um dessen Beerdigung zu organisieren. Es werden noch weitere Aufgaben auf sie zukommen, nicht nur juristischer Natur.
Es wird selten hell in dieser Serie. Die Genrebezeichnung »Noir« fand in jüngerer Zeit inflationäre, nicht immer korrekte Verwendung. Hier ist sie angemessen, steht für eine pessimistische Grundhaltung. Verbitterung und Verzweiflung sind von Anfang an präsent und nehmen im Laufe des Geschehens noch zu. Figuren geraten in ausweglose Situationen, ihr Handeln hat meist schmerzhafte Konsequenzen. Als Regisseur zeichnet Vincent Maël Cardona verantwortlich, 2021 mit »Die Magnetischen« Gewinner der Director's Fortnight bei den Filmfestspielen von Cannes und mit einem César prämiert. Wie bei dem Kinofilm hat er sich den Kameramann Brice Pancot an die Seite geholt. Der erweist sich als Meister der Low-Key-Ästhetik, der gezielten Unterbelichtung, und verstärkt deren Wirkung durch eine tiefdunkle Sepiatönung.
Cardona inszeniert kunstvoll, aber kaum einmal um des puren Effekts willen. Das Team macht Gebrauch von realen, nachvollziehbaren Schauplätzen, die Handlung bleibt geerdet, lässt aber auf einer abstrakteren Ebene Raum für Auslegungen. Erkennbar ist eine beinahe beiläufige Verwendung biblischer Motive. Kain und Abel erscheinen in zeitgenössischer Inkarnation, das Gleichnis vom verlorenen Sohn klingt an, die sieben christlichen Todsünden lassen sich als bestimmende Faktoren der Figurenzeichnung ausmachen. Für sich genommen keine ungewöhnlichen Komponenten im Krimigenre, doch der christliche Glaube ist der Familie Leprieur eindeutig nicht fremd.
Auf der visuellen Ebene gibt es korrespondierend einen vielsagenden Wink: Zwei signifikante Szenen spielen in der sich weithin sichtbar über Le Havre erhebenden katholischen Pfarrkirche St. Josef. Pierre Leprieur, der das Geschehen über seinen Tod hinaus beeinflusst, fleht zu Beginn der Geschichte: »Gnade. Vergebt mir. Vergebt ihnen.« Maxime Crupaux und Baptiste Fillon missionieren nicht. An wen sich Pierres Gnadengesuch richtet, kann das Publikum selbst entscheiden.
OV-Trailer
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