Apple TV+: »Sharper«
Der erfahrene Kinozuschauer weiß natürlich, dass das kein Zufall sein kann: Da betritt eine Frau einen Buchladen, Tom, der melancholische Eigentümer, beginnt, mir ihr zu flirten – oder sie mit ihm? –, jedenfalls gehen sie später zusammen essen, wo sie beiläufig fallen lässt, dass ihr Lieblingsbuch Charlotte Brontës »Jane Eyre« sei – und dann führt sie der Buchhändler glücklich zurück in den Laden, weil er ihr das wertvolle Exemplar der Erstausgabe, das er besitzt, zeigen will. Sind wir Zeuge eines geschickt eingefädelten Raubs? Aber natürlich hat sie es nicht auf diesen Schatz allein abgesehen – die Liebe zu »Jane Eyre« ebnet für Sandra (Brianna Middleton) lediglich den Weg zum Herzen von Tom (Justice Smith). Nach wenigen glücklichen Monaten des Zusammenseins kann sie ihm dann die finanzielle Not gestehen, in die ihr drogensüchtiger Bruder geraten ist. Als Tom ihr anbietet, ja schließlich sogar darauf besteht, die zur Rettung des Bruders nötigen 300 000 Dollar vorzustrecken, ist sie natürlich schockiert – schockiert! –, dass der kleine Buchhändler in Wahrheit so reich ist. Der arme Tom.
Man sieht sich für die weitere Beschreibung des eleganten Neo-Noir-Thrillers von Benjamin Caron leider dazu gezwungen, zu einer der abgegriffensten Beschreibungen zu greifen, die es für solche Fälle gibt: Niemand scheint hier ganz die Person zu sein, die er oder sie zu sein vorgibt. Aber wie bei den Agatha-Christie-Stil-Whodunits, die gerade wieder populär werden, gilt auch für den Noir-Thriller: Sie müssen auf den ersten Blick nicht unbedingt originell sein, denn allein in der Formelhaftigkeit steckt der ganze Spaß.
Und so tickt die Handlung in »Sharper« voran wie ein eingespieltes Räderwerk: Nachdem wir die Geschichte aus Toms Perspektive gesehen haben, sehen wir Sandras Seite, und danach die ihres von Sebastian Stan gespielten »Bruders«, und dann die von dessen »Mutter« (Julianne Moore) – und immer kommt zur Enthüllung für uns Zuschauer eine weitere Schicht an Täuschung für die Figuren hinzu. Außerdem spielt John Lithgow irgendwann das, was er am besten kann, einen misanthropischen Patriarchen, der sich in jeder Situation, in die er gerät, für die schlauste Person im Raum hält. »Wenn du schon stehlen musst, dann etwas Großes«, rät er an einer Stelle verachtungsvoll einem der Trickbetrüger – und hat so gar keine Ahnung, dass es da längst um seine eigenen Billionen geht. Es ist alles ein ziemlicher Spaß.
Vielleicht gerade deshalb erscheint der Film aber auch wie eine verpasste Chance: Das Drehbuch ist so schlank gehalten, die Inszenierung so aufs Wesentliche beschränkt und der Film mit knapp unter zwei Stunden so schnell vorbei, dass man sich am Ende irgendwie mehr gewünscht hätte: mehr soziales Umfeld für die Figuren, mehr Atmosphäre und mehr über das faszinierende Handwerk der »Con-Artists«, die oft ihre dicksten Fänge gerade da machen, wo sie ein Opfer zum zweiten Mal abzocken. Besonders weil auch die Schauspieler durch die Bank so großartig miteinander agieren, mit so sichtlichem Genuss am Täuschen und Durchschauen, wünscht man sich am Ende doch tatsächlich, es gäbe bald ein Sequel oder, besser noch, die Vorgeschichte zu diesen Figuren in Form eines Prequels.
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