Netflix: »Tribes of Europa«
»Tribes of Europa« (Staffel 1, 2021). © Gordon Timpen/Netflix
Wer im Brexit den Anfang vom Ende der europäischen Idee sieht, für den liefert die neue Netflix-Serie »Tribes of Europa« die passende Dystopie. Allerdings haben hier im Jahre 2074 nicht nationale Eigeninteressen die Zersplitterung des alten Kontinents bewirkt, sondern ein globaler Blackout, der auf ominöse Weise den gesamten technologischen Fortschritt der letzten hundert Jahre dahingerafft hat. Nicht nur die EU, sondern auch die Nationalstaaten sind zerfallen. Einzelne »Tribes« kämpfen mit unterschiedlichen Ideen und Organisationsformen wahlweise ums eigene Überleben oder die Vorherrschaft in Europa.
Die Serie beginnt in idyllischen Wäldern, in die sich der Stamm der Origines zurückgezogen hat. Die Öko-Community hält Technologie für den Ursprung allen Übels und lebt abgeschirmt im Einklang mit der Natur. Das hat ein Ende, als ein Jet in der Nähe abstürzt. Der Pilot drückt dem jungen Elja (David Ali Rashed) einen Hitech-Würfel in die Hand, und mit diesem Cube hat die Serie ihren MacGuffin gefunden, hinter dem alle her sind. Vor allem die finsteren Crows, die sogleich das Dorf überfallen, den Großteil der Bewohner massakrieren und den Rest als Sklaven ins ehemalige Berlin verschleppen. In einer traditionellen Scheibchendramaturgie folgen die sechs Episoden nun Elja, der mit dem Cube flüchtet, dessen Bruder Kiano (Emilio Sakraya), der im Harem der Crow-Fürstin Varvara (Melika Foroutan) landet, und der älteren Schwester Liv (Henriette Confurius), die versucht, ihre Familie zu befreien.
Regisseur und Drehbuchautor Philip Koch setzt weniger auf bahnbrechende Innovationen als auf die Neuanordnung vertrauter Genreelemente. Als Vorbilder dienten vor allem dystopische Kinovisionen wie »Die Tribute von Panem«. Henriette Confurius mit der Armbrust in der Hand erscheint als Wiedergängerin von Katniss Everdeen. Und wie viele postapokalyptische Szenarien wird auch dieses in der blutigen Geschichte des Nationalsozialismus verankert. Dunkle KZ-Katakomben in der Hauptstadt der Crows und Sebastian Blomberg als Diktator mit viel Kajal und pittoreskem Hipsterdutt komplettieren das Bild. German Angstmacher kommen schließlich immer gut an.
Für das komödiantische Gegengewicht darf durchaus erfolgreich Oliver Masucci als windiger Schrotthändler sorgen. Getragen wird die Erzählung, die sich etwas mechanisch von einem Cliffhanger zum nächsten hangelt, eher von den weiblichen Charakteren. Melika Foroutan ist als furiose Crow-Fürstin ein Ereignis für sich und verleiht ihrer Figur eine grausam-pragmatische Intelligenz. Als Sympathieträgerin, die sich männlichen Machtvorstellungen entzieht und in ihren Entscheidungen dem eigenen Kompass folgt, entwickelt Henriette Confurius eine unaufdringlich strahlende Präsenz. Die Schlusssequenz der letzten Folge legt nahe, dass in der zweiten Staffel noch stärker auf Frauenpower gesetzt und damit vielleicht auch mehr Originalität ins dystopische Einer- und Allerlei einfließen wird.
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