DVD-Tipp: »Anne with an E«

Wie ein Wirbelsturm fegt die 13-jährige Anne Shirley (Amybeth McNulty) 1890 ins beschauliche Leben der alternden Geschwister Marilla und Matthew Cuthbert auf einem Bauernhof am Rande des fiktiven Ortes Avonlea auf der kanadischen Insel Prince Edward Island. Es ist ein holpriger Anfang, denn eigentlich wollten die Geschwister einen Jungen adoptieren, weniger mit der Absicht, die Not eines Kindes zu lindern, als in Erwartung einer billigen Hilfskraft bei der harten Arbeit, für die sie langsam zu alt werden. Vor allem Marilla wirkt in den ersten Szenen gefühllos abweisend und fordernd resolut, während Matthew sich bald aus seiner wortkargen Zurückhaltung herauslehnt, diesem Mädchen entgegen, das sich so überschwänglich freut, endlich Teil einer Familie zu werden, die den Zauber der Landschaft in blumigen Worten beschwört, die immer ein bisschen zu hochtrabend sind für ein 13-jähriges Gör. Mit langen feuerroten Zöpfen, leuchtend blauen Augen und Sommersprossen wirkt der knochige Wildfang wie eine Dickens'sche Version von Pippi Langstrumpf, immer widerspenstig und wild genug, um niemals mädchenhaft niedlich und angepasst zu wirken, und dabei entwaffnend authentisch. Entsprungen ist sie der Fantasie von Lucy Maud Montgomery, die schon früh über selbstbewusste und eigensinnige Mädchen geschrieben hat. Ihre Romanreihe über das Coming of Age des Waisenkindes »Anne of Green Gables« wurde ab 1908 in Kanada veröffentlicht und bereits ein Jahr später ins Schwedische übersetzt, wo Astrid Lindgren zweifellos einige Inspirationen für ihre Pippi Langstrumpf fand.

»Anne with an E« (Staffel 1, 2017). © Netflix

Schon mehrfach wurden die bei uns wenig bekannten Geschichten für Film und Fernsehen adaptiert. Moira Walley Beckett, die schon als Autorin von »Breaking Bad« einen Sinn für subversiv schwarze Komik gezeigt hat, gelingt es in ihrer Neuauflage des Stoffes, moderne Ideen völlig glaubhaft in der historischen Welt eines Kostümdramas zu verwurzeln, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Sie hat einige neue Figuren eingeführt, einen schwarzafrikanischen Einwanderer aus Trinidad und einen empfindsamen schwulen Schuljungen, um Themen zu schärfen. Außerdem hat sie den Tonfall insgesamt verdüstert, vor allem durch die immer wieder aufblitzenden Flashback-Erinnerungen an vergangenen Horror. Das Leid einer schweren Kindheit in Waisenhäusern und als unbezahlte Magd in Pflegefamilien hat Anne früh reifen lassen, sie ist nicht nur dem eigenen Alter, sondern auch ihrer Zeit weit voraus. Ihr wichtigstes Werkzeug dabei ist der gesunde Menschenverstand und eine immer neugierige Offenheit: Warum sollte ein Mädchen nicht bei der Farmarbeit helfen können, wo sie doch alles könnten, was Jungen können, und mehr, fragt sie gleich in der von Niki Caro inszenierten Pilotfolge, die mit ihrer Wachsamkeit für die Natur in grandiosen Landschaftsaufnahmen und der schlichten Schönheit der Farminterieurs den Stil der Serie setzt. Und warum sollte sie warten, bis ein Junge sie küsst, und nicht selber loslegen, wenn sie Lust dazu hat. Trotz ausgeprägt romantischer Neigungen will sie lieber die »Braut des Abenteuers« werden, und wenn man Karriere macht, kann man sich ja auch selber ein weißes Kleid kaufen und es immer tragen, wenn man Lust hat. Es stört die temperamentvolle und allzeit empathische Anne nicht, dass sie vor allem bei den alten weißen Männern des Dorfes aneckt, mit ihren fortschrittlichen Forderungen nach Gleichberechtigung für Männer und Frauen, Weiße und People of color, seien es schwarzafrikanische Einwanderer oder indigene Ureinwohner, Schwule oder Lesben und mit ihrem Aktivismus gegen Diskriminierung und Mobbing. Doch ganz langsam beginnt Anne die Menschen im Dorf zu verändern, ihre verhärteten Herzen für neue Ideen und mehr Gerechtigkeit zu öffnen. Leider hat sich die kanadische Produktionsgesellschaft entschieden, keine vierte Staffel zu drehen, weil die Zusammenarbeit mit Netflix der kanadischen Filmwirtschaft schade, heißt es. Aber es gibt weltweite Proteste.

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Streaming-Möglichkeit (Netflix)