Streaming-Tipp: »Years and Years«

»Years and Years« (Serie, 2019). © HBO

»Years and Years« (Serie, 2019). © HBO

Die kommenden Krisen

Die Familienserie ist für das Medium Fernsehen eine Art Grundnahrungsmittel. Und deshalb auch meistens in etwa so bieder, fad und sättigend. Der britische Autor und TV-Produzent Russell T. Davies, der im Vereinigten Königreich als eine Art Seriengenie gilt, holt den Zuschauer in seiner jüngsten Kreation, dem Sechsteiler »Years and Years«, mithin an einem fast allzu vertrauten Ort ab. Da gibt es die verwitwete Großmutter Muriel (Anne Reid), in deren Haus sich zu diversen Festen im Jahresrhythmus ihre erwachsenen Enkel einfinden: Stephen (Rory Kinnear), der älteste und als Finanzberater erfolgreichste, Edith (Jessica Hynes), die sich als Umweltaktivistin auf dem Planeten rumtreibt, Daniel (Russell Tovey), der sich als Behördenangestellter um Flüchtlingsunterbringung kümmert, und Rosie (Ruth Madeley), die, obwohl von Geburt an gehbehindert, die lebenslustigste der Geschwister ist. Hinzu kommen diverse Ehepartner und Kinder, mithin massig Möglichkeiten, um diverse aktuelle Entwicklungen in dramatische Fernsehschicksale zu verwandeln.

Statt in den üblichen Rahmen von mehr oder weniger auf der Stelle tretenden Konflikten schickt Davies seine repräsentative Familie jedoch in die Zukunft. Nicht ganz weit weg, sondern nur so fünf, sieben, zehn Jahre. Und es zeigt sich, dass das eigentlich die viel spannendere Science-Fiction ergibt. Was in hundert Jahren sein wird, kann man sich ausdenken, was in fünf Jahren sein wird, muss man aus der Gegenwart ableiten.

Das Originelle und unbedingt Sehenswerte an Davies' Entwurf ist nicht nur das politische Geschehen, das er sich ausmalt, sondern wie er es zugleich verschränkt mit fiktiven technischen Errungenschaften. Einerseits schließt er sich den üblichen Pessimisten an, wenn er mit einer von Emma Thompson verkörperten Populistin eine Figur in Großbritannien an die Macht bringt, die von Trump und Nigel Farage gelernt hat, wie Wahlkampf geht: einfach das aussprechen, was andere sich nicht zu sagen getrauen. Etwa dass man Wähler zukünftig auf ihren IQ testen lassen sollte. Ihr Regime, das sie mit Stimmen aus der Familie antritt, verschärft die Krisen, die sie zu lösen versprach. Und wie in der realen Welt müssen sich auch in der Fernsehfiktion die Einzelnen fragen, ob sie das nicht hätten besser wissen können.

Andererseits zeigt Davies, wie sich die Mittel der Kommunikation weiter verfeinern und wie vor allem die Jugend ihre Identität im Virtuellen sucht. Ein medizinischer Durchbruch sorgt für einen raren Positivmoment. Ansonsten dominieren natürlich all die kleineren Krisen, die bis vor Corona bereits am Gefühl für Sicherheit und Stabilität nagten: Bankenpleiten, Flüchtlingsströme, Rechtsruck und Umweltkatastrophen. Das alles einmal nicht als spektakulären Katastrophenfilm zu sehen, sondern im Gewand einer biederen Familiensoap, ist am Ende fast noch erschreckender als die diversen Zombie-Apokalypsen.

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