Streaming-Tipp: »Time to Hunt«
Seoul hat sich verändert. Weite Teile der Bevölkerung leben im Elend, die Stadt gleicht einem einzigen Slum, einst angesagte Viertel verfallen und vermüllen, und ständig hängt ein giftiger Dunst in den Straßen. Massendemonstrationen der offensichtlich sehr wütenden Bevölkerung werden von der Polizei gerade so im Zaum gehalten. Die Welt von »Time to Hunt«, der bereits 2018 gedreht wurde und im Februar als Berlinale Special Premiere feierte, hat kein Coronavirus gebraucht, um in eine alles verheerende neue Finanzkrise zu stürzen – sie lädt aber selbstverständlich zu entsprechenden Assoziationen ein.
So passt es ganz gut, dass die Auswertung des Films in diese chaotische Zeit fällt, inklusive einer holprigen Erstveröffentlichung auf Netflix, die zu einer (kurzen) juristischen Auseinandersetzung führte.
Der junge Jun-seok traut jedenfalls seinen Augen nicht, als er nach drei Jahren Gefängnis von seinen besten Freunden in Empfang genommen wird und in diese postapokalyptisch anmutende Szenerie kommt. Am härtesten trifft ihn die Erkenntnis, dass wegen der horrenden Inflation die Beute des Bankraubs, für den er saß, so gut wie nichts mehr wert ist. Dahin die Träume von einem gemeinsamen Neuanfang mit seinen zwei Kumpels in Taiwan, wo die Strände und das Meer aussehen wie in Hawaii . . .
Also wird bald ein Plan ausgeheckt, der die perspektivlosen jungen Männer sanieren soll – ein allerletzter, aber richtig großer Coup: der Überfall auf ein illegales Casino, welches allerdings Gangstern von deutlich größerem Kaliber gehört. Dass das nicht gut gehen kann, ist eigentlich klar, aber die Jungs gehen mit so viel Eifer und Nonchalance an die Sache heran wie der Film, der sich nicht viel um Glaubwürdigkeit oder Feinheiten schert.
Mit großem Selbstbewusstsein, stark stilisierten, oft in Rot oder Gold getauchten Bildern und mit coolem Soundtrack spaziert er von einem vertrauten Genremuster zum nächsten, sozusagen immer die Waffe im Anschlag.
Die Charaktere der Hauptfiguren bleiben dabei leider skizzenhaft, manche Dialoge sind ziemlich lausig, kurze emotional gemeinte Momente, in denen es um die Freundschaft der Gangster geht, wirken deswegen und durch die fadenscheinige Konstruktion des Plots leer. Spannung entwickelt »Time to Hunt« aber trotzdem immer wieder, zumindest phasenweise und nicht zuletzt wegen des mysteriösen Killers, der nach dem Casinoüberfall auf den Plan tritt und sich an die Fersen von Jun-seok und seinen Freunden heftet. Mit einem Schaukasten an der Wand, in dem er sehr ordentlich die Ohren seiner Opfer aufreiht, wird er gleich als mythische Todesgestalt etabliert – samt Anspielungen auf Anton Chigurh aus »No Country for Old Men« der Coens und John Doe aus David Finchers »Seven«.
Sehr originell ist auch diese phantomhafte Figur namens Han nicht, doch um sie herum spinnt Sung-hyun Yoon einige starke Momente, die auch mal ganz elegant von einem Genre zum anderen springen können. So wird eine Barszene zwischen Jun-seok, seinem Telefon und einem Mann im Schatten zu einem so atmosphärischen wie spannenden Horrorintermezzo. Auch die Actionszenen zeugen vom handwerklichen Können des Regisseurs, dem man für sein nächstes Projekt vielleicht empfehlen sollte, das Drehbuch einen anderen schreiben zu lassen.
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