Streaming-Tipp: »Ghost Town Anthology«
Die Bilder sind rau und grobkörnig. In Zeiten hochauflösender digitaler Bilder fallen Denis Côtés zudem noch von aufflackernden weißen Drop-outs gekennzeichneten Aufnahmen aus dem Rahmen. Sie scheinen aus einer anderen Ära, einer fremden Welt zu kommen. Genau genommen stimmt das auch. Denn »Ghost Town Anthology«, der 2019 im Wettbewerb der Berlinale lief, spielt in einer den meisten Menschen gänzlich unbekannten Welt.
Gerade einmal 215 Menschen leben noch in Irénée-les-Neiges, einer kleinen Gemeinde im frankokanadischen Quebec. Im Winter herrschen hier Temperaturen weit unter null. Ein eisiger Wind fegt über die Ebene und verweht den Schnee. Die Häuser des Ortes, der seinen wichtigsten Arbeitgeber, eine Mine, vor einiger Zeit verloren hat, stehen wie Fremdkörper verstreut in der Landschaft. Wer in dieser Einöde ohne Zukunft lebt, muss sich entweder aufgegeben haben oder, wie die Bürgermeisterin Simone Smallwood, eine starke Bindung zu der kleinen Gemeinde empfinden.
Der Großteil der Einwohner scheint eher in die erste Kategorie zu fallen: Sie schleppen sich apathisch durchs Leben, innerlich wie erfroren. Nur der Tod des 21-jährigen Simon bringt noch eine leichte Regung in die erstarrten Existenzen. Der junge Mann ist mit seinem Auto auf gerader Strecke von der Straße abgekommen. Außer seiner Mutter Gisèle glaubt zwar niemand so recht an einen Unfall, aber die Wahrheit will auch niemand aussprechen. Simons älterer Bruder Jimmy ist sich sicher, dass er Selbstmord begangen hat. Doch die Frage nach dem Warum treibt ihn in die Enge. Eine Antwort würde bedeuten, dass er etwas ändern muss. Dann gäbe es nur noch zwei Möglichkeiten für ihn, entweder Simon folgen oder das Dorf hinter sich lassen.
In Denis Côtés Blick auf die kleine Stadt und ihre Bewohner liegt etwas Nostalgisches, ein Wissen um die Vergeblichkeit dieses Lebens – und eine nicht zu übersehene Sympathie. Es gehört auch einiges dazu, in Orten wie Irénée-les-Neiges auszuharren. Aber »Ghost Town Anthology« ist nicht nur das Porträt einer Gemeinde, die kurz davor steht, sich in eine Geisterstadt zu verwandeln. Er ist auch im wörtlichen Sinne ein Geisterfilm. Von Anfang an laufen vier bizarre Kinder, die ihre Gesichter hinter furchteinflößenden Masken verbergen, durch die Bilder.
Man ahnt bald, dass sie Geister sind, Wiedergänger, die keinen Frieden gefunden haben. Später wird man Bruchstücke ihrer Geschichte hören, einer Familientragödie, die sich tief ins Bewusstsein der Gemeinde eingegraben hat. Doch nicht nur sie kommen zurück. Immer mehr Tote erscheinen und blicken auf die Lebenden, als könnten sie es nicht erwarten, endlich wieder mit ihnen vereint zu sein. Côté erzählt ohne Zweifel von der schweren Arbeit, die mit Trauer einhergeht. Aber mehr noch erzählt er von der tiefen Absurdität des Lebens, an dessen Ende nichts als der Tod wartet.
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