Streaming-Tipp: »Boys State«
In nur wenigen Wochen werden die Amerikaner zwischen Trump und Biden entscheiden. Doch wer einen Blick in die fernere Zukunft der amerikanischen Politik werfen möchte, kommt nicht um die grandiose Doku »Boys State« herum. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sich unter den halbwüchsigen Protagonisten des Films ein zukünftiger Anwärter auf den Job des »mächtigsten Mannes der Welt« befindet.
Der surreale Mikrokosmos, in dem »Boys State« angesiedelt ist, bedarf für Nicht-Amerikaner zunächst einmal einiger Erklärung. Seit 1935 finden sich in Austin, Texas, alljährlich mehrere hundert junge Männer zwischen sechzehn und achtzehn Jahren zusammen, um dort in einer Art Rollenspiel ein fiktives Parlament aufzustellen. Die Teilnehmer durchlaufen zuvor ein penibles Auswahlverfahren und verstehen sich als kommende politische Elite des Landes. Die Historie des aufwendigen Planspiels, genannt »Boys State«, gibt ihnen recht: Unter den vorigen Teilnehmern befinden sich Gestalten wie der ehemalige Vizepräsident Dick Cheney und der demokratische Präsidentschaftsanwärter Cory Booker.
Der Film folgt einigen Teilnehmern der 2018er Ausgabe. Die Filmemacher wurden auf das Programm aufmerksam, nachdem das Jugendparlament im Jahr 2017 die kontroverse Entscheidung traf, Texas von den USA abzuspalten – alles rein theoretisch, versteht sich. Dieser radikale Entschluss lässt bereits auf die ideologische Stoßrichtung schließen, der sich die meisten der jungen Teilnehmer verpflichtet fühlen: Oft vertreten die Teenager erzkonservative Meinungen wie etwa ein uneingeschränktes Waffenrecht und schärfste Abtreibungsverbote.
Der Film von Jesse Moss und Amanda McBaine verkompliziert diese Tendenz und richtet den Fokus auf eine Gruppe von Jungs, die sich eher progressiven Idealen verschrieben haben. Da ist etwa der unscheinbare, aber redegewandte Steven, dessen Vorbild Bernie Sanders ist; oder der blitzgescheite René, der zum Parteisprecher gewählt wird, sich aber als Afroamerikaner teils üble rassistische Beleidigungen gefallen lassen muss. Als eine Art Gegenspieler dieser beiden Verbündeten baut der Film den kühl kalkulierenden Ben auf, der von einer Karriere in der CIA träumt. Er versucht als gewiefter Stratege, seinen Kandidaten mit populistischer Hetze gegen den politischen Gegner zum Gouverneur zu machen.
Das hier ist explizit keine »politische Werkstatt«, in der die Jugendlichen etwa eine demokratische Utopie entwickeln könnten, die das etablierte System infrage stellt. Stattdessen erweist sich der »Boys State« als Trainingslager für ehrgeizige Jungpolitiker, denen beigebracht wird, wie sie die Demokratie am besten zu ihrem Vorteil biegen können. Davon abgesehen ist der Film mit seinem männlichen Fokus ein interessantes, teils schockierendes Exposé über Politik als Domäne patriarchaler Macht. So sehr Moss' und McBaines Film auch begeistert, man wünscht sich am Ende sofort eine Fortsetzung, die den ebenfalls jährlich stattfindenden »Girls State« begleitet.
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