Im Rausch der Begegnung
Um als Künstler Rom gerecht zu werden, ist es anscheinend wenig hilfreich, dort geboren zu sein. Mit Ausnahme von Alberto Moravia und Roberto Rossellini sind die großen Porträtisten der Stadt Zugereiste, stammen aus Mailand, Rimini oder gar Sizilien. Ihre Neugierde entdeckt bezeichnende Details und Wesentliches, wo der Einheimische nur Selbstverständliches erblickt. Pier Paolo Pasolinis Fremdperspektive wurde in friaulischen Casarsa geschärft. Rom war für ihn zunächst ein Fluchtpunkt: Nach einer Anklage wegen Verführung Minderjähriger musste er den Lehrdienst quittieren. Die Ausstellung der Cinémathèque française, die sein Verhältnis zur Metropole beleuchtet, nimmt ihren Anfang auf dem Bahnhof von Casarsa. Der Besucher kann durch Zugfenster einen Blick auf das friaulische Leben werfen, das Pasolini 1950 gemeinsam mit seiner Mutter hinter sich ließ: den Vater, einen faschistischen Offizier; den Bruder, der in der Resistenza kämpfte und hingerichtet wurde und die Freunde.
Es war ein zukunftstrunkener Aufbruch. Rasch machte er sich einen Namen als Literat und Publizist, knüpfte illustre Freundschaften. Allerdings sollte er zeitlebens mit der Stadt ringen. Sie war für ihn Inspirationsquelle und Schlachtfeld, Ort der Verlockung und Zurückweisung. Sobald er sich jedoch als Filmemacher etablierte, kehrte er ihr immer häufiger den Rücken zu: erstaunlich, wie wenige seiner Filme tatsächlich dort spielen.
Die Ausstellung erkundet Pasolinis Rom als Seelentopographie: Jedes neue Lebenskapitel wird mit einem zeitgenössischen Stadtplan eröffnet, auf dem Wohn- und Drehorte eingezeichnet sind, denen heutige Straßenansichten gegenübergestellt werden. Die erste Wohnung, die er mit seiner Mutter bezog, lag in einem Arbeiterviertel nahe des Gefängnisses Rebibbia, später lebten sie in privilegierteren Gegenden. Bis zu seinem Tod zog es ihn jedoch in die Vorstädte, wohin den bekennenden Homosexuellen nicht nur das Begehren führte. Seine Neugierde auf das dortige, aus seiner Sicht ursprünglichere Leben war umfassender. Dieser Schüler des Neorealismus wusste, wie ertragreich das Studium der Straße ist.
Die Drehbücher, die er für Federico Fellini und Mauro Bolognini schrieb, weisen ihn als Spezialisten für die Welt der Bettler, Huren und Zuhälter aus. Die Ausstellung akzentuiert geschickt deren Status als Vorstufe, in dem sie Manuskriptseiten mit Standbildern und Dialogen illustriert, nicht aber mit Laufbildern aus den entsprechenden Szenen. In Pasolinis eigenen Regiearbeiten ist das Milieu nicht mehr nur Kolorit. Mit Accattone und Mamma Roma wird er gleichsam zum Franziskaner des italienischen Kinos: In der Armut entdeckte er Wahrheit und Erhabenheit. Die Schau gewährt Einblicke in seine filmische Werkstatt. Pasolini bereitet den lyrischen Realismus seiner Filme auf Storyboards vor, Fotos von Tazio Secchiaroli zeigen die Akribie seiner Schauplatzsuche; aus einem Monitor erklingt ein Streit mit seiner Hauptdarstellerin Anna Magnani.
Zur Filmregie kam Pasolini spät, nur in den letzten 15 Jahren vor seinem Tod 1975 übte er diesen Beruf aus. Die Schau entrollt ein facettenreiches Panorama seiner Schaffenskraft. Es ist unausweichlich, dass sie auch eine Chronik der Skandale ist, die sein Werk auslöste. Der Staatsanwalt, der Anklage gegen die blasphemische Christusdarstellung in La ricotta erhob, erhält ausführlich das Wort. Ihm steht die wuchtige Präsenz des Schneidetisches gegenüber, an dem Pasolini den Film montierte. Der Einspruch, die Antithese werden kenntlich als Grundimpuls seines Schaffens. Er verstand es, sich als kontroverse Figur des öffentlichen Interesses zu inszenieren und schaffte sich Feinde in jedem Lager. Der Besucher begibt sich in einen faszinierenden Taumel der Widersprüche: Nach 1968 polemisierte Pasolini gegen die protestierenden Studenten, beschimpfte sie als verwöhnte Bürgersöhne und schlug sich auf die Seite der Polizisten, die für ihn den Vorzug besaßen, aus der Arbeiterklasse zu stammen.
Die Ausstellung »Pasolini Roma« läuft noch bis zum 26. Januar 2014.
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