Ralph Fiennes: Ein Mann hebt ab
Harry (Ralph Fiennes) in »A Bigger Splash« (2015)
Ralph Fiennes hat sich neu erfunden. Der früher eher beherrschte englische Schauspieler zeigt sich jetzt komisch und exaltiert
Endlich ist Ralph Fiennes bei der Komödie angekommen. Und wie. Der Concierge Gustave in Wes Anderson »Grand Budapest Hotel« (2014) hat sein ganzes dekadentes Haus im Griff: die Hotelboys, denen er Schliff beibringt, die Gäste, denen er jeden Wunsch von den Augen abliest, die Frauen, die er gern alt mag und deren Geist er mit seinem Parfüm »L'Air de Panache« umnebelt. Monsieur Gustave trägt ein Schnurrbärtchen, wie mit dem Lineal gezogen, und seine Dienstkleidung sitzt so präzise wie seine Gesten. Alles in dem Film leuchtet eine Spur zu pastellfarben, in einem Delirium skurriler, fast surrealistischer Einfälle.
Ralph Fiennes ist brillant und schlittert haarscharf und sehr witzig an der Hysterie vorbei. Er selbst macht als Schauspieler keinen Unterschied zwischen Tragödie und Komödie. In einem Gespräch mit Christoph Waltz (initiiert von der Zeitschrift »Variety«) erklärte Fiennes, dass viele Menschen, die sich über seinen Komödienauftritt wunderten, vereinfachende Unterscheidungen machten. Er erinnerte daran, dass Komödien oft tragische und Tragödien komische Momente enthielten. Überhaupt nehmen in den Arbeiten seiner mittleren Lebensjahre – er wurde 1962 geboren – Ironie und Selbstironie einen prominenten Platz ein.
Unter einer Schicht polierter Höflichkeit kann Monsieur Gustave im »Grand Budapest Hotel« sehr vulgär werden. Auch eine kriminelle Vergangenheit ist bei ihm vorstellbar. Gegen Gangster setzt er sich mit professioneller Leichtigkeit und Brutalität durch. Aus dem Kontrast zwischen der pfauenhaften Fassade und dem eisernen Innenleben entsteht Komik; in der Zuspitzung wird die Praxis des sozialen Maskenspiels sichtbar. Diese Mehrfachbelichtung ist typisch für die Kunst von Fiennes. Meisterhaft zeigt er Masken und was dahinter steckt: das Monster vielleicht, den Gutmenschen oder den armen Kerl. Manchmal aber handelt es sich nicht einmal um Versteckspiele, sondern um verschiedene Gesichter einer einzigen Person, die alle authentisch sind. Nie aber geht es bei den Charaktererfindungen oder -interpretationen ohne Widersprüche ab. In einem Interview sagte Fiennes einmal: »Es gibt keine einfachen Lösungen im Leben.« Nicht die offenkundigen – einnehmenden oder abstoßenden – Züge seiner Figuren interessierten ihn, sondern ihre gut gehüteten Geheimnisse, Kompliziertheiten oder Fehler, ihre »B-Seiten«.
Ins Farcenhafte lässt er den Filmregisseur Laurence Laurentz in »Hail, Caesar!« (2016) kippen. In der Hommage der Coen-Brüder an das alte Hollywood spielt er auf der Note des Camp, die sich in »Grand Budapest Hotel« schon angekündigt hatte. Laurentz lässt sich, so Fiennes, als ironische Verbeugung vor den Regie-Emigranten und -Maestros des alten Europa lesen: von Laurence Olivier bis zu Noël Coward und »Lawrence of Arabia«-Regisseur David Lean. Laurentz versucht, einen schauspielerisch unbegabten Westernstar (Alden Ehrenreich) mit höflichen Regieanweisungen durch ein Salonstück zu steuern. Dabei verliert er fast den Verstand: Auch hier treffen Haltung und Emotion aufeinander – und intellektuelle und kulturelle Unterschiede im Zusammenspiel mit dem jungen Mann. Eine Perle in »Hail, Caesar!« ist die Szene, in der Laurentz seinem Star die Zeile »Would that it were so simple« – »Wenn das nur so einfach wäre« – beizubringen versucht. Die anachronistische Formulierung, die dem Engländer federleicht über die Lippen geht, bedeutet für den Westernhelden eine unüberwindliche sprachliche Hürde.
1998, als Fiennes in der Rolle des John Steed mit »The Avengers« in den Kinos floppte, hatte es nicht so ausgesehen, als ob die Komödie je sein Genre werden würde. Auch »Maid in Manhattan« (Manhattan Love Story, 2002), eine konventionelle Romantic Comedy mit Jennifer Lopez, ließ ihn nicht ankommen. Zwischen Lopez und Fiennes fehlte die Chemie. Seine Figur besaß keine Leichtigkeit. Für Fiennes müssen es immer Projekte sein, die komplexen Figuren eine Plattform bieten.
Einen Vorläufer des Monsieur Gustave spielte Fiennes in »Brügge sehen... und sterben?« (2008) von dem angloirischen Dramatiker und Filmemacher Martin McDonagh. Da ging er den umgekehrten Weg des charmanten Concierges, der so hart zuschlagen kann: Bei McDonagh wird er als Unterweltboss Harry Walters eingeführt, dessen Wutanfälle ans Aberwitzige grenzen. Doch dann wird ein Mann sichtbar, dem Moral etwas bedeutet. Ganz gleich wie verquer, wie unhaltbar sein Ehrenkodex ist (eines von McDonaghs künstlerischen Anliegen besteht in der Demaskierung absurder oder obsoleter Konventionen und Regeln): Walters ist ein Mann mit Prinzipien.
Als neuer M in den James-Bond-Filmen »Skyfall« (2012) und »Spectre« (2015) wirkt Fiennes in seiner Durchsetzungsfähigkeit, die Gewaltanwendung nicht scheut, wie ein naher Verwandter von Harry Walters. Überraschend war auch: So working class wie in McDonaghs Tragikomödie »Brügge sehen...« war Fiennes noch nie. Er spricht mit dem Cockney-Akzent des Londoner East End, bürstet sein Image gegen den Strich. Bis dahin hatte man Ralph Nathaniel Twisleton-Wykeham-Fiennes – so sein Geburtsname – fast immer als Vertreter der oberen oder mittleren Gesellschaftsklassen gesehen; auch ist er angeblich entfernt mit Prinz Charles verwandt: dergleichen wird im klassenbewussten England sensibler wahrgenommen als anderswo.
In David Cronenbergs »Spider« (2002) entfernt sich die Fiennes-Figur noch weiter von der Bürgerlichkeit als Harry Walters. Mehr noch: Als psychotischer Außenseiter Spider fällt er durch alle Raster der Gesellschaft. Seine Krankheit entzieht ihn der moralischen Verantwortung. Er ist gefährlich und bemitleidenswert zugleich. Kaum eine Fiennes-Rolle tariert die Balance zwischen Täter und Opfer so genau aus. Und kaum ein Charakter repräsentiert die Doppelgesichtigkeit so entschieden. »Spider« macht das Problem der Unvereinbarkeit von innerer und äußerer Wirklichkeit, das Fiennes immer wieder zeigt, so ausdrücklich wie kein anderer Film zum Thema. Die einzige Realität, die Spider bewohnt, sind seine Gedanken, paranoide Fantasien und Erinnerungen, aus denen es keinen Ausweg gibt. Und wenn er sie je hinter sich lassen würde, stünde er vor dem Nichts.
Schurkenrollen wie der Lord Voldemort der »Harry Potter«-Filme oder der Tooth Fairy genannte Serienkiller in »Red Dragon« (2002), dem Prequel zu »Hannibal«, platzierten ihn im Reich der Fantasie. Als Voldemort macht eine Maske ihn unkenntlich, als Tooth Fairy ist sein Rücken vollständig mit Tätowierungen bedeckt. Sein ruhiges, damals noch jugendlich glattes Gesicht verbirgt Mordlust und Wahnsinn. Voldemort und Tooth Fairy schleppen, wie Spider, Kindheitstraumata mit sich herum. Am Ende scheitern sie mit ihren Allmachtsfantasien. Auch die Verbrechen von Fiennes' wirklichkeitsnahem Schreckensmann Amon Goeth in Steven Spielbergs Holocaust-Film »Schindlers Liste« (1993) werden gesühnt, er stirbt schließlich am Galgen. Der Charakter beruht auf einer authentischen Biografie, und Fiennes ließ sich bei der Rollengestaltung von historischen Dokumenten anregen. Spielberg sagte über seinen Darsteller: »Er besitzt einen Charme, den er ausschalten kann, und dann wird er tödlich ruhig.« Und er fügte hinzu: »I saw sexual evil.«
Vor seinem Filmruhm war Ralph Fiennes längst auf britischen Bühnen ein Star. Schon mit 27 hatte er sich vor allem mit Shakespeare-Rollen im National Theatre und der Royal Shakespeare Company einen Namen gemacht. Trotz der Filmarbeit setzte er das Theaterspiel nahezu ununterbrochen mit enormem Arbeitseinsatz fort. Das unterscheidet ihn von fast allen Filmgrößen, die sich nur gelegentliche Abstecher auf die Bühne gönnen. Von »Hamlet« bis »Troilus und Cressida«, von »Henry IV« bis zu Prospero im »Sturm«, von »King Lear« bis »Julius Caesar« deklinierte er die großen Shakespeare-Rollen durch; dem Dramatiker aus Stratford-upon-Avon widmete er auch seine erste, positiv aufgenommene Filmregie, »Coriolanus« (2011). Im Theater zeigte Fiennes von Anfang an, was er sich im Film erst in jüngerer Zeit erlaubt: die große Geste, den lauten Satz, den Einsatz des ganzen, explosiven Temperaments. Und das Theater – auch Ibsen-, Shaw-, Beckett- und Sophokles-Aufführungen gehören dazu –, lässt Fiennes' Stimme auf andere Weise zur Geltung kommen als das Medium Film: Er ist einer der besten Shakespeare-Sprecher (und -Darsteller) der britischen Bühne. Die rund vierhundert Jahre, die zwischen der Entstehung und der Aufführung der Stücke liegen, überbrückt er mit einer Leichtigkeit wie nur wenige andere. Im Film legte Fiennes mit Lust zum Experiment eine lange Wegstrecke zurück. Im Theater aber war stets alles da: Vielleicht lag ihm die Distanz des Publikums zur Bühne mehr als der intime Zuschauerblick, den die Kamera erlaubt.
Auch das war Ralph Fiennes einmal: Mit dicken Silberringen, halblangen Haaren, schwarzer Lederhose zeigte er sich in »Strange Days« (1995), einem unterschätzten Science-Fiction-Film mit Noir-Elementen von Kathryn Bigelow. Selten agierte Fiennes beiläufiger, entspannter. Er war damals Anfang dreißig und das, was man in England drop dead gorgeous nennt; er spielt einen Ex-Cop in Los Angeles, der Tapes mit Virtual-Reality-Filmen auf dem Schwarzmarkt verkauft. Lenny Nero schwatzt Fremden seine Produkte auf, in Clubs, Bars, Hotels: ein Verlierer, der achselzuckend durch die Maschen eines bequemen mittelständischen Lebens gefallen ist, ohne ein Drama daraus zu machen. Da gibt es kein Selbstmitleid, kein Pathos. Wenn es emotional wird, schaut er zur Seite. Damit unterläuft Fiennes die Rührseligkeit kalkulierter Effekte: Solche Entscheidungen, die gegen den Strich der Konventionen laufen, sind häufig bei ihm zu sehen. Lange Zeit lag der Kern seiner großen Schauspielkunst auch in der Zurückhaltung – wie auch noch in der John-le-Carré-Verfilmung »Der ewige Gärtner« (2005), in »Bernard und Doris« (2007) und »Der Vorleser« (2008).
Meistens ist Lenny Nero nachts unterwegs; so halbseiden wie seine Hemden und weniger substanziell als die Frauen an seiner Seite: Angela Bassett, die ihre Muskeln spielen lässt, und Juliette Lewis als Femme fatale, die in ihren hautfarbenen Paillettenkleidern nackter aussieht als nackt. Im Grunde übernimmt Fiennes hier den Part, der häufig weiblichen Filmfiguren zugedacht wurde: Er ist unsicher, weiß nicht, was zu tun ist. Wenn er verprügelt wird, sorgt er sich vor allem um die Unversehrtheit seines Armani-Jacketts. Doch sein Charakter zeigt nicht nur Schwäche. Ganz groß ist er im Festhalten an seiner alten Liebe Faith (Juliette Lewis) – auch das eine Eigenschaft, die das Kino sonst gern bei Frauen herausstreicht. Obwohl Faith kein Interesse mehr an ihm hat, ist er entschlossen, sie zu beschützen, als sie in Lebensgefahr schwebt. Auch Mace (Angela Bassett), der Freundin und Kollegin, rettet er einmal das Leben, unter Einsatz seines eigenen. Da wird der Antiheld zum Helden, der ein großes Thema des Films durchbuchstabiert: Loyalität. Unter der Regie von Kathryn Bigelow spielte Fiennes dann 2009 noch einmal in dem Oscargewinner »The Hurt Locker«, ein kurzer Auftritt.
Stummes Leiden, Grübeln und Schmachten: Die Gesichter und Gesten unterdrückter Gefühle und heiß-kalter Leidenschaften bestimmten die erste Hälfte seiner Filmkarriere. Typisch waren Blicke von oben nach unten oder umgekehrt, das Kinn auf die Brust gesenkt, halb schüchtern, halb kokett, aber eben auch wie jemand, der etwas verbergen will. So wie man es eigentlich eher bei Filmdiven gesehen hat: Lauren Bacall war eine Meisterin dieser Art von Augenaufschlag. Dabei kam Fiennes' edles Profil besonders gut zur Wirkung. Die Guten und die Bösen, die Schurken und die, die irgendwo in der Mitte lagen, sendeten auf dieser Frequenz. Besonders eignete sich die Technik für die Verführer, die er in vielen verhängnisvollen Affären spielte – in »Wuthering Heights« (Stürmische Leidenschaft, 1992), »Der englische Patient« (1996), »Onegin« (1999) und der Graham-Greene-Verfilmung »Das Ende einer Affäre « (1999).
In der zweiten Karrierehälfte verloren die aasigen Liebhaber an Glamour. Schon Maurice Bendrix in »Das Ende einer Affäre« war spröder als seine romantischen Vorgänger. Fiennes erklärte damals, er identifiziere sich mit dieser Rolle: »Er hat Angst, seine Geliebte zu verlieren. Und er reagiert darauf mit Wut. Im Grunde ist er ein verletzlicher Mann voll paranoider Wut und damit verbundener Grausamkeit. Solche Leute verstehe ich. Ich verstehe die Angst, die Unsicherheit.« Später dann, bei dem gefühlskalten Aristokraten in »Die Herzogin« (2008), ist der Lack ab: Da ist die Grausamkeit nicht mehr attraktiv. Einen ältlichen, kaum mehr anziehenden und schwierigen Galan spielte er in »The Invisible Woman« (2013), seiner zweiten Regiearbeit nach »Coriolanus« (2011): Da war er Charles Dickens, der sich mit einer jungen Schauspielerin in kleinen, mühsamen Schritten auf eine fast qualvolle Liebesgeschichte zubewegt, deren Probleme nicht mit verklärendem Blick aufgehübscht werden. Diese Romanze ist als Platzhalter für die Sehnsüchte der Betrachterinnen ganz ungeeignet.
Der Liebhaber, den Fiennes jetzt in »A Bigger Splash« (2015) spielt, lässt erst recht alle Zurückhaltung hinter sich. Er provoziert, ist laut, extrovertiert und nervt bei einem Candlelight-Dinner mit Monty-Python-Imitationen. In einer Tanzszene verewigt er sich mit dem, was man im Englischen Dad Dancing nennt, wenn Väter noch einmal richtig aufdrehen wollen: Da macht Fiennes die Peinlichkeit zum Ereignis. Das ist weit entfernt vom erotischen Knistern des Foxtrotts, den er als Graf Laszlo de Almásy im »Englischen Patienten« mit Kristin Scott Thomas hinlegte. Der englischen Tageszeitung »The Guardian« sagte er im Januar, dass es ihm wichtig sei, nicht in ein »kleines Loch zu geraten, in dem man seine eigene Technik perfektioniert. Ich sehe mir immer andere Schauspieler an. Auch Gemälde, Fotos und Bücher können einem alle Arten von Einsichten geben.« Jedenfalls scheut er, der einstige Experte für englische Reserviertheit und Untertreibung, die offene oder exaltierte Geste schon lange nicht mehr. Der australische »Daily Telegraph« fand, Fiennes sei in »A Bigger Splash« und bei der anschließenden Promotion-Tour nicht mehr ganz er selbst. Er antwortete: »What is myself?« Auch in Interviews, bei denen er seine Gesprächspartner charmant um den Finger wickelt, scheint er immer eine Rolle zu spielen. Man glaubt ihm alles – und nichts.
... Kritik zu »A Bigger Splash« (Start 5. Mai)
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