Netflix-Dokus: Man kann nicht wegschauen
»Tiger King: Großkatzen und ihre Raubtiere« (Serie, 2020). © Netflix
Netflix konnte mit der Exzentriker-Doku »Tiger King« einen veritablen Streaming-Hit landen. Aber neben weiteren sensationsträchtigen True-Crime-Formaten hat der Streamingdienst eine überraschend vielfältige Palette an Dokumentationen zu bieten
Spanner, Betrüger, Pornodarsteller und Raubkatzenfanatiker: Beim Streaminganbieter Netflix hat sich in den letzten Jahren eine Kategorie des Dokumentarfilms etabliert, die sich auf verschiedene Weise den abseitigsten Gestalten nähert. Oft funktioniert das ganz hervorragend und offeriert einen einfühlsamen Blick auf die Ränder der Gesellschaft, der auch scheinbar monströsen Protagonisten mit Respekt und Interesse begegnet; hin und wieder aber balancieren diese Serien und Filme auf dem schmalen Grat zwischen schonungsloser Aufdeckung und spekulativer Freakshow und werfen Fragen nach der ethischen Verantwortung der dokumentarischen Form auf. Ein Streifzug durchs Unterholz.
Wahre Verbrechen
»Making A Murderer«, Netflix' erste große True-Crime-Show, die einem zu Unrecht Verurteilten über zehn Jahre folgte, sorgte allerorts für Aufsehen. Im Schatten dieses Erfolgs aber ist eine ganze Reihe von Shows und Filmen entstanden, die dem Genre oft einen neuen Dreh gaben. Allen voran ist da Kitty Greens Debütfilm »Casting JonBenét« zu nennen, ein überaus cleverer Vertreter der True-Crime-Spielart, der zugleich die Frage nach den Grenzen des Zeigbaren stellt. Green gestaltet ihre Rekonstruktion eines grausamen Verbrechens an einem jungen Mädchen, das die USA in den 90er Jahren in Aufruhr versetzte, als Doku über den Castingprozess eines fiktiven Spielfilms. Anstatt also, wie man es vom Genre kennt, den Spuren des alten Verbrechens detektivisch nachzugehen, lässt Green in ihrer Doku Amateurschauspieler aus der näheren Umgebung des Tatorts für die Rollen der damals beteiligten Personen vorsprechen. So erzählt der Film eine »Oral History« des Verbrechens und problematisiert zugleich auf spannende Weise die oft fragwürdige Sensationsgier des Genres.
Einen anderen, ebenso ungewöhnlichen Zugang wählt die vierteilige Miniserie »Don't F**k With Cats«, die von der Suche nach dem kanadischen Serienmörder Luka Magnotta erzählt. Hier kommen zunächst nicht wie gewöhnlich die Polizei oder Journalisten zu Wort, sondern eine kleine Gruppe von Internetnerds, die auf den Psychopathen bereits Monate vor seinen Taten online aufmerksam wurden: Magnotta hatte auf Facebook Videos gepostet, in denen er Katzen quälte. Die Doku lässt nun diese Amateurdetektive zu Wort kommen, die mit digitalen Tools wie Google Maps möglicherweise zur Ergreifung des Täters beitrugen. Die Episoden werden zunehmend düster und am Ende trägt die Serie etwas zu dick auf; sehenswert ist diese Chronik einer digitalen Jagd dennoch.
Deutlich konventioneller, aber ebenso wirksam geht der Dokumentarfilm »Amanda Knox« zu Werke. Die Doku widmet sich chronologisch und detailliert dem bekannten Fall der jungen Amerikanerin, die in Italien zu Unrecht des Mordes angeklagt wurde. Sachlich, ruhig, aber mit unglaublicher Wucht geht der Film den fragwürdigen Methoden der italienischen Polizei, der Blutgier der Boulevardpresse und den Auswüchsen der öffentlichen Reaktion um Knox' Fall nach, der schließlich in einem Freispruch endete.
Moderne Zeiten
Es war eine Welle kollektiver Schadenfreude: Als das vermeintliche Luxus-Musikfestival »Fyre Festival« sich aufgrund katastrophalen Missmanagements auf den Bahamas zu einem Alptraum für seine hippen, neureichen Besucher entwickelte, konnte sich kaum ein Beobachter ein hämisches Grinsen verkneifen. Die gleichnamige, grandiose Doku rollt detailreich die Organisation, das Marketing und schließlich die verheerende Durchführung des Events auf und, man muss es sich eingestehen, lässt die Zuschauer diese Schadenfreude noch einmal durchleben. Denn die beiden Hauptverantwortlichen, der mittlerweile verurteilte Betrüger Billy MacFarland und der größenwahnsinnige Rapper Ja Rule, die der Film anhand des ergiebigen Videomaterials vorstellt, erweisen sich als genau die Unsympathen, die man erwartet hatte. Interessant ist vor allem, wie das Marketingteam das Festival als wahr gewordenen Instagram-Traum – Strand, Luxusvillen, Models, Gourmet-Catering – verkaufte, und am Ende nur nasse Zelte und klebrige Käsetoasts übrig blieben.
Ein anderes trügerisches Versprechen des Internets steht im Fokus des Films »Hot Girls Wanted« und der begleitenden Serie »Hot Girls Wanted: Turned On«: Im Film geht es um einen schmierigen Agenten, der online weibliche Teenager für seine Amateur-Porno-Agentur anwirbt. Die Mädchen folgen dem Versprechen des schnellen Geldes, ziehen in dessen Villa ein und erleben in kürzester Zeit, dass die brutale Industrie wenig mit Spaß am Sex zu tun hat. Mag der Film zeitweise auch mit arg erhobenem Zeigefinger daherkommen, so ist der Einblick in die unterste Ebene dieses millionenschweren Geschäfts doch erschütternd.
Die Serie weitet die Perspektive auf den generellen Umgang mit Sex im Internet und überzeugt vor allem mit einer Episode mit dem Titel »Take Me Private«, die einem geradezu die Kinnlade auf den Boden fallen lässt. Dort steht das amerikanische Webcam-Girl Alice im Zentrum, die sich nach monatelangem Onlinekontakt zum ersten Mal »in echt« mit ihrem treuesten Kunden in seiner australischen Heimat trifft. Das Aufeinandertreffen der zuvor nur digital verbundenen Lebenswelten ist faszinierend und zugleich ein tieftrauriges Zeugnis von Einsamkeit im Zeitalter kompletter Vernetzung.
Schräge Vögel
Die Reaktion auf Netflix' neuesten Doku-Hit »Tiger King« war zunächst einhellig: Solch abstruse Typen, wie sie diese Show über den heruntergekommen Privatzoobesitzer Joe Exotic und seine nicht weniger bizarren Mitstreiter und Widersacher versammelte, könne man sich nicht ausdenken. Das Leben schreibt die irrsten Geschichten. Nach und nach aber wurden auch berechtigte Zweifel an der ethischen Verantwortung der Dokuserie laut: »Tiger King« zeigt ein wenig zu ausgiebig die Tierquälerei, welche die Raubkatzen in selbst gebauten Käfigen erleiden müssen. Das könnte man noch als notwendige Aufdeckung dubioser Methoden rechtfertigen, doch der Umgang mit den menschlichen Protagonisten der Serie ist nicht viel besser. Klar, Joe Exotic und seine kleinkriminellen Angestellten und Gegenspieler sind kaum sympathisch; stellenweise aber lebt die Show nur von ihrer Bloßstellung und begibt sich damit auf fragwürdiges Terrain. »Tiger King« ist wie ein Autounfall, von dem man sich abwenden will, sich der fatalen Anziehungskraft aber nicht entziehen kann.
Deutlich weniger problematisch ist ein merkwürdiger kleiner Film namens »Voyeur«. Es geht dort um zwei Männer: die Journalistenlegende Gay Talese und Gerald Foos, einen Motelbesitzer, der Talese in den 80er Jahren kontaktierte, um ein bizarres Geständnis zu machen. Über Jahre hinweg, so behauptet Foos, habe er seine Gäste über ein kompliziertes System von Geheimgängen bei intimen Handlungen beobachtet und alles akribisch notiert. Jahrzehnte später, in der Gegenwart, beschließen die Männer, mittlerweile beide über 80, nun ihre Geschichte in der Doku zu teilen – dann aber kommt plötzlich alles ganz anders, als man denkt. »Voyeur« entwickelt sich zu einem Psychogramm zweier Exzentriker und wird schließlich zu einer Abhandlung über journalistische Wahrheitsverpflichtung und die Faszination des Abseitigen – und passt somit hervorragend in den schrägen Kanon der Netflix-Dokus.
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