Moritz Bleibtreu: Für Darsteller wie ihn werden Filme massgefertigt
Moritz Bleibtreu in »Es war einmal in Deutschland...« (2017) © X-Verleih
Er ist einer der populärsten und vielseitigsten deutschen Schauspieler. Moritz Bleibtreu kann Gangster, Kiffer, Quatschköpfe, Charmeure. und historische Figuren lässt er sehr modern wirken
Cool sieht er aus in Thomas Jahns Gangsterkomödie »Knockin' on Heaven's Door« von 1997, die seinen Durchbruch im Kino markierte. Mit schwarzem Anzug, schmaler Krawatte, dunkler Sonnenbrille und im Duo mit Thierry van Werveke als Hank, der Holländer, war Moritz Bleibtreus Abdul eine Art deutsch-arabischer Blues Brother. Die beiden sind Handlanger eines Kölner Gangsters, und wie häufig spielt Bleibtreu auch hier einen, der nicht sonderlich helle ist, was sich sprachlich etwa so manifestiert: »Rutsch rüber, oder soll isch dir dein Hirn pusten?«, blaffte er seinen Kumpel an, ein Satz, der in den Zitatenschatz des Kinos eingegangen ist. Dass diese Szene nicht einfach nur außerirdisch blöd wirkte, sondern bei aller Dussligkeit ziemlich lässig, hat viel mit der unangestrengten, etwas naiven, aber auch sehr authentischen Präsenz von Moritz Bleibtreu zu tun. Eine Qualität, die im deutschen Kino alles andere als selbstverständlich ist – und die vielleicht auch auf seine Lehrjahre in Amerika zurückgeht. Obwohl ihm das Schauspiel durchs Method Acting beinahe verleidet wurde.
Abdul, der Araber, Ferzan, Knasti, Manni, Nasreddin, Tahrek Fahd, Giancarlo, Serguei Markov, Fersan, Brownie, Illias Kazantsakis, Arafat, Mimi Nachtigall, Sammy Sarano, Maliksha, Nappo, Alphatier, Holländer-Michel: Schon die Rollennamen, die Moritz Bleibtreu im Laufe der Jahre in seiner Filmografie versammelt hat, sprechen Bände über eine in allen Farben und Nationalitäten schillernde Schauspielkarriere. Die vage südländische Erscheinung und die Sozialisation im Hamburger Problemkiez St. Georg prädestinierten Bleibtreu offenbar für eher instinktgesteuerte Typen mit Migrationshintergrund und Arbeiterklassenflair, für kleine Gangster, Schläger und Schlawiner, die sich schlitzohrig und bauernschlau durchs Leben schlagen, mit einer entwaffnenden Mischung aus Selbstironie, lebensversüßendem Galgenhumor und jungenhaftem Schalk in wechselnden Zusammensetzungen.
Das gilt auch für den jüdischen Holocaust-Überlebenden David Bermann, den Bleibtreu jetzt in Sam Gabarskis »Es war einmal in Deutschland...« spielt, eine Rolle, in der sein ewig jugendlicher Charme durch den gerade überwundenen Nationalsozialismus einen Dämpfer davongetragen hat – er wirkt hier ungewohnt erwachsen und seriös. »Hitler ist tot, aber wir leben noch!«, verkündet er mit triumphierendem Galgenhumor, der sich als wirksames Geschütz gegen schmerzliche Erfahrungen der Vergangenheit und den schwelenden Nachkriegsantisemitismus in den deutschen Dörfern der Gegenwart erweist. Im US-Transitlager für jüdische Flüchtlinge, 1946 in Frankfurt am Main, zieht er umtriebig ein Geschäft mit Handelsreisenden für Weißwäsche, jiddisch: Teilachern, auf. Bermann bastelt an seiner Zukunft, will seinen Traum von Amerika verwirklichen, nur um dann doch in Deutschland hängenzubleiben. Dass es häufig anders kommt als geplant, passt zu einem Typ, der meist aus dem Bauch heraus handelt.
Bleibtreu, 1971 in München geboren, stammt aus einer regelrechten Schauspielerdynastie. Schon sein Großvater und seine Urgroßmutter waren Theaterschauspieler, ebenso der Vater Hans Brenner und die Mutter Monica Bleibtreu. Zwar spielte Moritz Bleibtreu als Kind in zwei Folgen der Serie »Neues aus Uhlenbusch«; er hat sich aber nie aktiv für diesen Berufsweg eingesetzt. Das sei eher Schicksal gewesen, meint der Schulabbrecher, der erst mal ein Au-pair-Jahr in Paris, einige Zeit in Italien und dann in Amerika verbrachte. Einen kleinen Schauspielvirus muss er sich aber schon als Junge hinter den Kulissen der Bühnen eingefangen haben, auf denen seine Mutter spielte. Allerdings zog es ihn bald weg von der Theatralik zum unmittelbareren, physischeren Kino, wo er sein natürliches Charisma und seine instinktive Präsenz ausspielen konnte.
Statt Worte in die Waagschale zu werfen, arbeitet er lieber mit dem Körper. Ein Mädchen verführen, einen Job abschwatzen, einen Fehler überspielen, den Hals aus der Schlinge ziehen – das gelingt ihm mit einer trotzigen Geste, einem feixenden Lächeln, einem verschmitzten Augenzwinkern. Auch das Spiel mit Kostüm und Maske liebt er, zwischen Kurzhaarschnitt und Wuschelfrisur und mit allerlei Bartkreationen. So spielte er in der letzten Staffel der Fernsehserie »Schulz und Schulz« einen prolligen Neonazi in Tanktop und Tarnhose, mit Springerstiefeln, Hosenträgern und Bierdose in der Hand, in Pepe Danquarts Mafiasatire »Basta – Rotwein oder Totsein« eine Schlägertype mit Schnauzer und Goldkettchen. In der Kifferkomödie »Lammbock« von Christian Zübert (zu der es inzwischen die Fortsetzung »Lommbock« gibt) nimmt er mit Strohhut und offenem Hemd ein Bad im Hanfdschungel; in Bakhtyar Khudojnazarovs »Luna Papa« verleiht er dem usbekischen Dorftrottel Nasreddin mit Wollmütze und weitem Parka über vielen Kleiderschichten allem Quatsch zum Trotz eine feine Melancholie. In »Solino« verkörpert Bleibtreu südeuropäischen Machismo mit viel Haut und mal wieder mit Goldkettchen. Und in »Vijay und ich« trägt er zuerst als grünes Pechkaninchen ein dickes Kunstpelzkostüm mit Schlappohren, um sich dann mit Perücke, falschem Bart und Turban in ein alternatives Leben als indische Küchenhilfe zu flüchten. Zu seiner sehr physischen Herangehensweise ans Spielen gehört auch, dass er viel zeigt; in der Komödie »Stadtgespräch« zieht er nicht nur sein T-Shirt aus, sondern lässt auch die Hosen fallen, um Katja Riemann einen Geburtstagsgruß auf der Unterhose zu präsentieren.
Besonders gut verbindet sich sein instinktives, furchtloses Spiel mit expressiven, leidenschaftlich überbordenden Regisseuren wie Fatih Akin und Oskar Roehler. Unter Roehlers Regie wurde er in »Agnes und seine Brüder« und der Michel-Houellebecq-Verfilmung »Elementarteilchen« als verklemmt sexsüchtiger Bibliothekar Hans-Jörg und als sexuell frustrierter Deutschlehrer Bruno zu einer Art Alter Ego des von den Nachwehen der 68er-Generation gebeutelten Regisseurs und scheute auch vor peinlichen Szenen schmerzlicher Selbstentblößung nicht zurück, was ihm auf der Berlinale einen Silbernen Bären für seine Leistung als bester Hauptdarsteller in »Elementarteilchen« einbrachte. »Weil ich die Schwächen der Frauen nicht so gut kenne wie die der Männer, rutsche ich bei der Betrachtung der Männer in so ein clowneskes Ding ab«, räumt Roehler ein. Ein paar Jahre später spielte Bleibtreu auf dem für Roehler typischen schmalen Grat zwischen herzzerreißender Wahrhaftigkeit und schrillem Trash in der filmischen Rekonstruktion der Entstehung des Nazipropagandafilms »Jud Süß« auch noch den Goebbels. Gegen den Vorwurf, dass Bleibtreu so lustvoll vom Leder zieht, dass der Propagandaminister zur Knallcharge wird, verteidigte der Regisseur seinen Star: »So einer Figur in nur wenigen Auftritten sehr nahe zu kommen, in seiner Eitelkeit, in seiner Parvenühaftigkeit, in seiner Schläue, seiner Niedertracht und seiner Anrüchigkeit als Frauenverführer, das erfordert komödiantische Spitzfindigkeit, die Moritz fantastisch gemeistert hat.« Längst ist Bleibtreu für Roehler eine Größe, die er schon beim Schreiben vor Augen hat: »Im Gegensatz zu vielen Schauspielern, die sich in so einen minimalen Ausdruck zurückgezogen haben, liebe ich Leute wie Moritz Bleibtreu, Henry Hübchen oder Justus von Dohnányi, die mehr wagen, die auch mal ein bisschen über die Stränge schlagen, um genau darüber eine Vielfalt von Facetten zu transportieren. Es geht doch auch darum, solche Ereignisse, die 60 Jahre zurückliegen, nicht einfach nur naturalistisch, eins zu eins wiederzugeben, sondern sie aus moderner Sicht zu interpretieren.« So nimmt Bleibtreu historischen Figuren wie Joseph Goebbels oder auch dem Terroristen Andreas Baader das Gewicht der Vergangenheit, holt sie stattdessen ganz unmittelbar in die Gegenwart – aus Baader wird in Uli Edels RAF-Thriller »Der Baader Meinhof Komplex« ein Politpopstar zum Anfassen.
Fatih Akin hingegen kitzelte verstärkt die romantischen Seiten aus dem Schauspieler heraus, etwa in »Im Juli«, wo Bleibtreu als scheuer, lebensfremder Lehrer von Christiane Paul in ein wildes europäisches Abenteuer gezogen wird. Ganz gegen sein Image tritt er hier als erklärter Pazifist auf – »Ich prügle mich nie, ich verabscheue Gewalt!« – und meint entgeistert, das sei doch nicht etwa Rauschgift, was Juli da rauche: »Da wird man doch doof von!« In »Solino« und »Soul Kitchen« wiederum nutzte Akin die »mediterranen« Looks seines Stars: In ersterem ist er ein italienischer Gastarbeiter in Duisburg, in der Hamburger »Soul Kitchen« hat er griechische Wurzeln: »Als Regisseur ist man wie ein Fußballtrainer«, sagte Akin in einem Interview mit »TV Spielfilm« über seine mit nationalen Klischees spielende Komödie: »Man hat eine Mannschaft und einen Führungsspieler, der war Moritz. Er war mein Ballack.« Als Knacki auf Freigang lässt er sich vergnügt auf den Wogen der Musik treiben und mimt den Klassenkasper, Luftgitarre und Entenarschtanz inklusive.
Häufig kommt Moritz Bleibtreu so authentisch und unverstellt daher, dass man gar nicht den Eindruck hat, er müsse sich groß anstrengen. Dass er durchaus Ambitionen hat, konnte er unter der Regie von Oliver Hirschbiegel in dem Thriller »Das Experiment« zeigen. 4 000 Mark verspricht die Zeitungsanzeige für die Teilnahme an einem 14-tägigen Versuch. Nach dem Modell des berühmten Stanford-Experiments werden 20 Probanden per Zufallsprinzip in Wärter und Gefangene eingeteilt, um zu erforschen, wie sich die Dynamik von Macht und Ohnmacht in Gruppen entwickelt. Bleibtreu spielt Tarek Fahd, Abbruchstudent, Taxifahrer und Undercover-Reporter, der als Häftling Nr. 77 Bewegung in die starre Versuchsanordnung bringt, mit Provokationen, die die Situation gezielt anheizen sollen, schließlich aber eine Gewaltspirale in Gang setzen, über die er die Kontrolle verliert. Dabei wechselt Bleibtreu virtuos zwischen großspuriger Frechheit, betroffenem Mitgefühl, explosiver Wut und verzweifelter Zerrüttung, ist mal subversiver Manipulator, mal dynamischer Actionheld, mal ausgelassener Komiker. Ein eher klägliches Bild gibt er dagegen mit blond gefärbten Haaren als Manni in Tom Tykwers »Lola rennt« ab: Nachdem er 100 000 Mark verloren hat, die einem sehr finsteren Gesellen gehören, bleiben der dynamisch durch Berlin hetzenden Titelheldin nur 20 Minuten, um ihn herauszuhauen.
Moritz Bleibtreu ist ein Lokalmatador, hat aber doch eine ganz beachtliche Reihe kleinerer Rollen in internationalen Filmen gesammelt: in »Taking Sides« von István Szabó, wo er als amerikanischer Leutnant David Willis »Die Akte Furtwängler« abarbeitet, in Paul Schraders »The Walker« und in Steven Spielbergs »München«, neben Toni Servillo und Daniel Auteuil in dem französisch-italienischen G8-Thriller »I Confessioni«, als Hacker in Bill Condons Julian-Assange-Thriller »Inside Wikileaks« oder in Marc Forsters Zombie-Apokalypse »World War Z«. In Fernando Meirelles internationalem Geschichtengeflecht »360 – Jede Begegung hat Folgen« spielte Bleibtreu 2011 einen deutschen Geschäftsmann. Meirelles hatte sich aus jedem der beteiligten Länder einen prominenten Schauspieler geholt, Bleibtreu war ihm in »Lola rennt« aufgefallen, im »Baader Meinhof Komplex«, aber auch in »München«: »Schaut man irgendwelche deutschen Filme an, bekommt man ihn früher oder später zu sehen.«
»Siehst gar nicht aus wie ein Lehrer, eher wie ein Penner!«, bemerkt Bleibtreus Kollege Mehmet Kurtulus in »Im Juli« zweifelnd. Der Straße ist Bleibtreu allemal näher als den oberen Büroetagen. Gelegentlich spielte er zwar auch Vertreter höherer Einkommensgruppen wie den WHO-Arzt in »World War Z« oder einen Strafverteidiger mit gescheiteltem Haar, Anzug und Vintage-Jaguar in der auf Ferdinand von Schirachs Kurzgeschichten basierenden Miniserie »Schuld«. Aber ehrlicher und authentischer wirkt er etwa im energiestrotzenden Genrekino von Özgür Yildirim: auf den Hamburger »Mean Streets« als Drogenpate Brownie, der den Titelhelden von »Chiko« zwischen jovialer Freundlichkeit und brütender Gewalttätigkeit verführt und verschreckt. Oder auch in der turbulenten Actionkomödie »Nicht mein Tag«, in der er dem öden Leben eines biederen Bankangestellten als prolliger Ex-Knacki und Amateurbankräuber Nappo mit einem wilden Kidnapping-Abenteuer einen Frischekick verpasst. Mit Zottelhaar, Beinahevollbart und subversivem Charme wirft sich Bleibtreu da in die Welt der kleinkriminellen Ruhrpotthelden von Peter Thorwarth – ein irrer Trip mit viel Herz, auf dem sich die bürgerlich-theoretischen Fähigkeiten des bedachten Beamten und die praktisch-kriminellen Energien des forschen Gangsters auf wundervolle Weise ergänzen.
In »Free Rainer« dagegen kitzelte Hans Weingartner zusammen mit seinem Star aus einer Executive-Rolle subversive Funken, indem er den erfolgreichen Produzenten schlechter, aber quotenstarker Fernsehshows aus dem Karrierekorsett befreite und zum Anstifter einer Kulturrevolution ummodelte: »Ich hab noch nie so viel geschwitzt und geblutet in einem Film«, erzählte Bleibtreu: »Es war total verrückt, an einem Tag mit 50 km/h und einem aufgeblasenen Airbag in ein Auto zu rasen, am nächsten Morgen eine romantische Liebesszene, abends eine absurde Slapstickszene und nachts einen philosophischen Dialog zu drehen.«
Wenn schließlich in dem düsteren Psychothriller »Stereo« Bleibtreu und Jürgen Vogel zum ersten Mal aufeinandertreffen, fragt man sich, warum da nicht längst schon mal einer drauf gekommen ist. Irritierend symbiotisch verbindet sich die rechte Gesichtshälfte von Bleibtreu auf dem Filmplakat mit der linken von Vogel. Mit gesenktem Kopf und tief ins Gesicht gezogener Kapuze dünstet Bleibtreus Henry eine dumpf brütende Gefahr aus, die sich zwischen Wahn und Wirklichkeit im friedlichen Landleben von Vogels Erik ausbreitet, in einem labyrinthischen Spiel mit Identitäten, das Reminiszenzen an David Finchers »Fight Club« enthält. Neben dem Quatschkopf, Charmeur und Kleingangster gibt es noch einigen Spielraum für Moritz Bleibtreu.
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