Europas größtes Filmstudio
»Der junge Häuptling Winnetou« (2021). © Leonine Distribution
Die Tabernas – ist eine Trockenwüste in der spanischen Provinz Almería. Jeder, der ins Kino geht, hat sie schon mal gesehen. Denn es gibt kaum einen Schauplatz, der so gut zur Allegorie taugt und zugleich so vielseitig ist: Italowestern, Sandalen- und Kriegsfilme, Fantasy, Komödien wurden hier gedreht. Gerhard Midding über den Glamour einer kargen Landschaft
Nie zuvor sah sie so prächtig aus. In goldenes Licht getaucht, wirkt sie geradezu üppig: ein Ort, an dem es sich leben lässt. Für die Apachen ist die Wüste ihre Heimat, in der sie finden, was sie brauchen. Gewiss, an einem solch kargen Ort stellt sich täglich die Frage des Überlebens. In diesem Jahr sind die Büffel ausgeblieben, deren Fleisch sie versorgte und deren Fell sie im Winter wärmte.
Müssen sie nun weiterziehen und das Land ihrer Ahnen verlassen? Der halbwüchsige Winnetou, der bisher ohne Sorgen aufgewachsen ist, steht vor seinem ersten großen Abenteuer. Er ist ein ungeratener Häuptlingssohn, es fehlt ihm noch an Verantwortungsgefühl. Sein Eigensinn macht seinen Mangel an Erfahrung nicht wett. Aber er kann sich auf das Land verlassen und der Film, der von seiner ersten Bewährungsprobe erzählt, sich auf seinen Drehort: das Desierto de Tabernas im Südosten Andalusiens. Jeder Filmschauplatz hat seine Vorgeschichte, aber kein anderer verfügt über eine so glorreiche wie dieser.
Mit dieser Wahl tritt »Der junge Häuptling Winnetou« zunächst einmal in die Fußstapfen von Michael »Bully« Herbigs »Der Schuh des Manitu«. Die Parodie verabschiedete sich programmatisch von den beschaulichen Karstlandschaften Kroatiens, die den Look der klassischen Karl-May-Verfilmungen bestimmte und den Südwesten der USA für das deutsche Publikum domestizierte. Die Tabernas kommt seiner Anmutung glaubwürdig näher. Aber noch wichtiger ist, dass sie die Wiege des Italowesterns war. Von »Für eine Handvoll Dollar« an wandelte sich hier das Antlitz eines ganzen Genres unwiderruflich. Die Wüste gehörte fortan unverzichtbar zu dessen visueller Kurzschrift. Ihre Landschaften sind so vertraut wie die Gesichter der Darsteller. Aficionados erkennen prominente Schauplätze augenblicklich wieder. Sie wissen beispielsweise, dass es auf der alten Bahnstrecke von Guadix nach Almería eine Schneise gibt, die sich besonders gut für Überfälle eignet. Und sie können sämtliche Western aufzählen, die in dem Canyon gedreht wurden, durch den später Indiana Jones auf seiner dritten filmischen Schnitzeljagd einen deutschen Panzer verfolgt und durch den nun Winnetou im stibitzten Planwagen flieht.
Als hier, in der einzigen Trockenwüste Europas, in den 50ern erste Dreharbeiten stattfanden, gab es in der Provinzhauptstadt Almería noch kaum Hotels und keinen Flughafen. Seither wurden in der Tabernas bislang fast 300 Filme bzw. Episoden von TV-Serien gedreht. Zeitweilig konkurrierten 14 Westernstadtkulissen um die Produktionen. Von ihnen sind drei übrig geblieben, darunter zwei reine Touristenfallen; »Fort Bravo« jedoch dient nach wie vor als Drehort. Vor »Der junge Häuptling Winnetou« inszenierte hier Jacques Audiard einige Passagen von »The Sisters Brothers« und demnächst will Pedro Almodóvar in der Kulisse seinen halbstündigen Western »Strange Way of Life« mit Ethan Hawke und Pedro Pascal realisieren.
Um die Kinogeschichte der Tabernas zu erzählen, bedarf es einer gewissen topographischen Großzügigkeit. Die Wüste misst zwar 280 Quadratkilometer, aber als Drehort bedarf sie der Ergänzung. Filmproduktionen profitieren von kurzen Wegen. Die Küste ist nicht weit entfernt und Szenen, die in Sandwüsten spielen, können im nahe gelegenen Cabo de Gata gedreht werden. Die angrenzende Provinz Granada liefert zusätzlich markante Schauplätze, darunter den Bahnhof von La Calahorra, den Sergio Leone als Motiv schätzte und der seit dem Auftakt von »Spiel mir das Lied vom Tod« legendär ist. Die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada, die über Totalen der Gebirgslandschaft thronen, sind ebenfalls von der Nachbarprovinz ausgeborgt.
So lässt sich hier eine Vielzahl von Genres heimisch machen: Fantasy (»Die unendliche Geschichte«), Sandalenfilme (»Cleopatra«), Kriegsfilme (»Patton«) Comic-Realverfilmungen (»Asterix bei den Olympischen Spielen«) und Komödien (»Die dummen Streiche der Reichen«). Dass in dieser Region im selben Zeitraum einmal Louis de Funès, Alain Delon, Rainer Werner Fassbinder, Joseph Losey und Toshiro Mifune Filme drehten, demonstriert ihre Strapazierfähigkeit. Was hätten diese verschiedenen Kontinente des Kinos einander zu sagen gehabt, falls sie sich begegneten? Fassbinder durfte sich für »Whity« immerhin Sergio Leones Dekors ausleihen; in einer Szene hängt noch der Steckbrief mit der Belohnung, die in »Spiel mir das Lied vom Tod« auf Cheyennes Kopf ausgesetzt ist.
Die Tabernas hat nicht nur Schauplätze aus Nord- und Mittelamerika gedoubelt, sondern auch vom Balkan, aus Nordafrika, von der arabischen Halbinsel sowie aus Afghanistan (»A War«, Regie Tobias Lindholm) und ein sehr dystopisches Australien (»Mad Max – Jenseits der Donnerkuppel«). Nur für eines durfte sie bisher nie stehen: für sich selbst. Zwei Mal wäre ihr dies beinahe gelungen. In »Beruf: Reporter« lässt Michelangelo Antonioni, der Spezialist für Reisen ins Nichts, seine Figuren am Ende doch nicht zu ihr vorstoßen. Die deutsche Coming-of-Age-Geschichte »Sunburned« (Regie Carolina Hellsgård) zeigt zwar ein seltenes Interesse an der Fauna des Hinterlandes – die 13-jährige Claire hat von Füchsen gehört, die in der Wüste ihrem eigenen Schwanz nachjagen –, am Schluss taucht die Tabernas jedoch nur als Double eines erträumten Marokko auf. Ihr Mandat ist die Allegorie.
In ihrer Hauptrolle als Szenerie für Italowestern spielt diese Landschaft dessen Lust an der Dekonstruktion zu. Die Tabernas tritt auf der Leinwand im Wesentlichen als Gebirge in Erscheinung und sabotiert damit einen zentralen Mythos des Genres: den freien, offenen Horizont. Dem Blick in die Ferne offenbart sich ein überwältigendes Relief der Hügel, Gebirgs- und Hochgebirgszüge. Felsformationen stoßen aufeinander, Hochebenen enden brüsk vor unbarmherzigen Abgründen. Diese Szenerie verlangt nach Tiefenschärfe oder zumindest extrem langen Brennweiten; zumal italienische Kameraleute ermuntert sie zu hemmungslosen Zooms. In Leones fünf Western lässt sich ein Prozess der immer tieferen Versenkung in die Berglandschaft verfolgen. Zu Beginn seiner »Dollar«-Trilogie dient sie noch vornehmlich als dramatischer Hintergrund, der jedoch von Film zu Film verlockender wird. Leone fasziniert zunächst die staubige Kargheit der Ebene, die bei ihm bald eine Domäne des Eisenbahnbaus und -verkehrs ist. Schienenstränge werden mitten durchs Niemandsland verlegt, Bahnhöfe stehen allein auf weiter Flur; vorerst noch ohne zugehörige Ortschaft. Endgültig lässt sich »Todesmelodie« auf die geologischen Bizarrerien der Berge ein, wohin es den irischen Revolutionär Sean verschlagen hat. Man muss ihm schon recht geben, wenn er feststellt: »Komische Gegend hier bei euch!«
Die Landschaft ist zerfurcht von Rinnen, Schluchten, Canyons und »Ramblas« genannten Trockenflussbetten. Es ist ein Terrain der Unwägbarkeiten, dessen Antlitz sich so rasch wandelt wie die Machtverhältnisse in Revolutionswestern: Die Erosion steckt voller Heimtücke. »Broken Land« wird dieses verwirrend unebene Gelände in Michael Winners Film »Chatos Land« genannt, der nicht von ungefähr von Flucht und einer Menschenjagd handelt. Sie führt durch versteinertes, verfluchtes Ödland, das die Sonne ausgebrannt hat. »Für den Apachen jedoch ist es sein Leben«, sagt der Anführer der Posse, »er erwartet nichts von ihr.« Tatsächlich gelingt es Chato, diese Landschaft zu seiner Verbündeten zu machen. Das ist bald kein Privileg der Ureinwohner mehr. In Sergio Sollimas »Der Gehetzte der Sierra Madre« wird der mexikanische Strauchdieb Cuchillo zu einem Teil von ihr; er versteckt sich in den Furchen der Felsen und erwehrt sich seiner Verfolger mit einer Steinschleuder.
In diesen badlands lassen sich unterschiedliche Grade der Lebensfeindlichkeit studieren. Die angeblich 3000 Sonnenstunden pro Jahr sind ein schlagendes Werbeargument für den Drehort. Ihre Kehrseite ist, dass die Tabernas die Region mit dem niedrigsten Niederschlag in ganz Europa ist – bislang. Auch dieser Besonderheit ist jedoch nicht zu trauen. Manchmal kommt es unvorhergesehen zu schweren Regengüssen, die plötzlich die Ramblas fluten. So ergoss sich eine meterhohe Welle über das Set von »Lawrence von Arabien«, die Schauspieler, Techniker, Komparsen und Kamele eilig die Wände der Rambla erklimmen ließ und David Leans Wohnwagen überflutete.
Gleichviel, der Boden ist hier so schlecht, dass es sich kaum lohnt, ihn urbar zu machen. Wenn irgendwo einmal eine Pflanze in Blüte steht, wurde die Szene bestimmt anderswo gedreht. Die Sequenz des illegalen Grenzübertritts in »Terminator: Dark Fate«, in der kurz eine fruchtende Anabasis zu sehen ist, bildet eine seltene Ausnahme. Die Aloe vera, die der junge Winnetou als Heilmittel gegen einen wund gerittenen Hintern empfiehlt, mag es damals schon in der Heimat der Apachen gegeben haben; nach Andalusien wurde sie von den Mauren gebracht. Was im subtropischen Wüstenklima der Tabernas ansonsten wächst – Gestrüpp, Halbsträucher, Moos und Flechten –, hat wenig Nährwert für hungernde und dürstende Reisende. Oberhalb der Steppe gibt es keinen durchgehenden Bewuchs mehr, die Bodenkruste ist nur sporadisch bedeckt mit Büscheln, die wie Flecken anmuten: ein spröder Pointillismus der Natur, an dem man diesen Drehort augenblicklich identifizieren kann. Diese Wüste ist nicht »rein«, wie Lawrence von Arabien schwärmt; in einer Szene, die indes tatsächlich in der Tabernas gedreht wurde.
Die Befleckung passt wunderbar zur schäbigen Erscheinung und Natur der Italowesterncharaktere. Diese Schäbigkeit überträgt sich auf andere Genres, als moralische Erosion. »Die dummen Streiche der Reichen« mit Louis de Funès handelt von der blanken Raffgier. »Ein dreckiger Haufen« (1969, Regie André de Toth) ist ein Meisterwerk des Zynismus, in dem der Krieg als Spielfeld berechnender Krimineller erscheint. Wie die anderen filmischen Terrains, deren extreme Lebensbedingungen handlungsbestimmend sind – Meer, Dschungel, Eis –, ist die Wüste ein Ort der Konfrontation, vor allem mit sich selbst. In eine Gegend wie die Tabernas kommt man nicht freiwillig und noch seltener unschuldig. Hierhin wird man vom Verhängnis verschlagen und hofft, dass es eine kurze Etappe bleibt. So ergeht es den britischen Weltkriegssoldaten, die in Richard Lesters »Wie ich den Krieg gewann« auf Geheiß ihrer Vorgesetzten hinter den deutschen Linien ein Cricketfeld errichten sollen. Mit »Im Visier des Falken« – wo zwei Flüchtende aus dem Meer auftauchen und sich immer weiter ins Gebirge hochkämpfen, um eine mysteriöse Grenze zu erreichen – gelang Joseph Losey hier eine bezwingende Studie existenziellen Geworfenseins.
In der Tabernas lässt sich aber nicht nur von letzten Reisen erzählen. Sie bietet auch die Szenerie für filmische Passagen, die in die Zukunft weisen. An diesem Ort muss man sich bewähren, hier kann man seine Bestimmung finden. Christus wird in »König der Könige« 40 Tage in der Wüste vom Teufel versucht und widersteht. In »Conan, der Barbar« von John Milius wächst der Held in dieser Kulisse zum Krieger heran. Auch der ungehorsame Häuptlingssohn Winnetou lernt Lektionen fürs Leben. Allerdings liegt noch ein steiniger Weg vor ihm, bis er Anführer seines Stammes werden kann.
»Spiel mir das Lied vom Tod« handelt von einer anderen Bewährungsprobe. Leones Film geht eine Wette gegen die Elemente ein: Er ist besessen vom Wasser. Dieses Faszinosum nimmt seinen Anfang bereits im Vorspann, mit den Tropfen, die am Bahnhof auf die Hutkrempe eines Wartenden fallen, und zieht sich fortan durch den gesamten Film. Das Wasser ist ein Luxus; das Rasieren, Kaffeekochen und Baden werden als lustvolle Privilegien inszeniert. Die Küste zu erreichen, ist der Traum des Eisenbahnmagnaten Morton, der sich nur im Meeresrauschen der Tonspur erfüllt, während er in einer Pfütze krepiert.
Der Rancher McBain jedoch hat Wasser entdeckt, wo es niemand vermutete. Die Quelle versorgt nicht nur seine Ranch, die den trotzigen Namen »Sweetwater« trägt. Sie soll ihn reich machen: Er weiß, dass Dampfloks ohne Wasser nicht auskommen. Als er ermordet wird, übernimmt es seine Witwe Jill, aus der Ranch einen Bahnhof und schließlich eine Stadt zu machen. Im triumphalen Schlussbild, wo Jill den neu ankommenden Bahnarbeitern Wasser aus Krügen einschenkt, leuchtet eine Utopie auf. Aus der feindseligen Wüste kann eine Heimat werden. »Sweetwater« wird keine Zwischenstation sein, sondern ein Ort, an dem es sich leben lässt.
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